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1. Januar 1871Die Gründung des Deutschen Reichs stellt nicht nur die politische Einheit Deutschlands her, sondern schafft auch die Voraussetzungen für dessen rechtliche Einheit.
Mit der Gründung des Deutschen Reichs wird nicht nur die politische Einheit Deutschlands hergestellt, sondern auch mit der Schaffung der rechtlichen Einheit Deutschlands begonnen. Die bis dahin bestehende Rechtszersplitterung wird in den folgenden Jahren beseitigt, unter anderem durch eine einheitliche Regelung der Gerichtsorganisation, des gerichtlichen Verfahrens sowie des Straf- und des Zivilrechts.
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Zur Durchsetzung der rechtlichen Einheit wird das Reichsgericht in Leipzig geschaffen.
Zur Durchsetzung dieser Rechtseinheit bestimmt das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 das Reichsgericht als oberstes Gericht in bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten und in Strafsachen. Nach einer Kampfabstimmung im Bundesrat, bei der das von Wilhelm I. und Otto von Bismarck favorisierte Berlin knapp unterliegt, erhält das Reichsgericht seinen Sitz in Leipzig. Was der damalige Kronprinz (und spätere Kaiser Friedrich III.) als „Maulschellenschlag in’s kaiserliche Angesicht“ empfindet, sieht der Reichskanzler gelassener: Es sei für die kleineren Staaten wichtig gewesen, auch einmal Preußen zu überstimmen, indes in einer politisch unwichtigen Angelegenheit.
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1. Oktober 1879Das Reichsgericht wird mit einem feierlichen Festakt gegründet.
Mit einem Festakt in der Aula der Universität Leipzig wird das Reichsgericht am 1. Oktober 1879 offiziell gegründet. Erster Präsident des Reichsgerichts ist Eduard von Simson, vormals Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, Abgeordneter des preußischen Landtags und Präsident des Deutschen Reichstags sowie des Appellationsgerichts in Frankfurt/Oder. Als provisorisches Dienstgebäude stellt die Stadt Leipzig dem Gericht die sogenannte Georgenhalle zur Verfügung.
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Ludwig Hoffmann und Peter Dybwad gewinnen den Wettbewerb zur Errichtung des Reichsgerichtsgebäudes.
Für den Wettbewerb zur Errichtung des Reichsgerichts gehen 119 Entwürfe aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ein. Zum Sieger wählt die elfköpfige Wettbewerbsjury einstimmig den Beitrag der Architekten Ludwig Hoffmann (1852-1932) und Peter Dybwad (1859-1921). Das Reichsjustizamt beauftragt nachfolgend Hoffmann mit der weiteren Bearbeitung des Entwurfs und dessen Ausführung.
Ludwig Hoffmann
Ludwig Hoffmann wird am 30. Juli 1852 in Darmstadt geboren. Von 1873 bis 1879 studiert er Architektur an der Kunstakademie Kassel und der Bauakademie Berlin. Im Jahr 1879 besteht er die Erste, 1884 die Zweite Staatsprüfung. Das Reichsgerichtsgebäude ist sein Erstlingswerk. Nach dessen Fertigstellung wird er 1896 zum Stadtbaurat in Berlin gewählt und übt dieses Amt bis 1924 aus. In dieser Zeit entstehen zahlreiche Krankenhäuser (u.a. Rudolf-Virchow-Krankenhaus Wedding, Hospital Buch-West, Krankenhaus Moabit), Kulturbauten (u.a. Märkisches Museum, Erweiterung der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität), Beteiligung am Bau des Pergamon-Museums), Sozialbauten (u.a. Waisenhaus Alte Jakobstrasse) und Verwaltungsbauten (u.a. Stadthaus Klosterstraße, Standesamt Fischerbrücke, Postgebäude in Buch). Ludwig Hoffmann stirbt am 11. November 1932 in Berlin.
Peter Dybwad
Peter Dybwad wird am 17. Februar 1859 in Christiania (dem heutigen Oslo) in Norwegen geboren. Von 1878 bis 1882 studiert er an der Bauakademie in Berlin. In dieser Zeit lernt er Ludwig Hoffmann kennen. Es ist der Beginn einer lebenslangen, engen Freundschaft. Bis zur Fertigstellung des Reichsgerichtsgebäudes ist Peter Dybwad auch an der Bauausführung beteiligt. Er bleibt dem Haus als Technischer Beirat in Baufragen bis 1920 weiterhin verbunden. Nach Beendigung des Reichsgerichtsbaus lässt er sich als freier Architekt in Leipzig nieder. Bis zu seinem Tod am 13. Oktober 1921 in Leipzig errichtet er in Leipzig viele Wohn- und Geschäftshäuser, u.a. die Geschäftshäuser in der Burgstraße 1-5 und am Martin-Luther-Ring 20 sowie das Bankhaus Meyer & Co. am Thomaskirchhof 20.
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31. Oktober 1888
In Anwesenheit Wilhelm II., König Alberts von Sachsen, des Reichsgerichtspräsidenten und zahlreicher Ehrengäste erfolgt am 31. Oktober 1888 die feierliche Grundsteinlegung für den Bau des Reichsgerichtsgebäudes.
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26. Oktober 1895Wilhelm II. weiht das Reichsgerichtsgebäude ein, welches gleichermaßen die Reichsgründung und die Rechtseinheit symbolisiert.
Am 26. Oktober 1895 weiht Wilhelm II. das Reichsgerichtsgebäude im Beisein des sächsischen Königs, des Reichskanzlers, des Reichstags- und des Reichsgerichtspräsidenten sowie weiterer Vertreter des Reichs, der Länder und der Justiz ein.
Das im Stile des Historismus mit Anleihen an italienische und französische Vorbilder errichtete Gebäude ist damals wie heute eines der beeindruckendsten Gerichtsgebäude Deutschlands. Seine architektonische Gestaltung symbolisiert in vielfacher Weise die nationale und rechtliche Einheit Deutschlands sowie die Bedeutung des Rechts und seiner richterlichen Durchsetzung. Einen Eindruck hiervon vermittelt ein virtueller Rundgang. Gemeinsam mit dem Reichstag in Berlin ist das Reichsgericht das wichtigste Repräsentationsgebäude der Reichsgründung.
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Dem Reichsgericht werden weitere Gerichte angegliedert. Der Niedergang der Weimarer Republik spiegelt sich in bedeutsamen Verfahren wider.
In der Weimarer Republik werden dem Reichsgericht weitere Gerichte angegliedert, unter anderem der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Sein geschichtlich bedeutsamstes Urteil fällt dieser am 25. Oktober 1932. Darin erklärte er die Bestellung des Reichskanzlers Franz von Papen zum Reichkommissar für das Land Preußen durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg („Preußenschlag“) in weiten Teilen für mit der Reichsverfassung vereinbar.
Nach der Ermordung Walther Rathenaus wird 1922 für die strafrechtliche Ahndung von Angriffen gegen Mitglieder der Reichs- oder einer Landesregierung sowie für Hochverratsprozesse beim Reichsgericht der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik errichtet. 1927 werden dessen Zuständigkeiten auf das Reichsgericht zurück übertragen.
Die Strafverfahren vor dem Reichsgericht und den ihm angegliederten Gerichten spiegeln die zunehmende Spaltung und Radikalisierung der deutschen Gesellschaft wider. Hierfür stehen beispielhaft die Strafverfahren gegen Beteiligte des Kapp-Putsches (1921) und des Parchimer Fememordes mit den Angeklagten Rudolf Höß und Martin Bormann (1924), der Ulmer Reichswehrprozess (1930) mit dem berüchtigten „Legalitätseid“ des Zeugen Adolf Hitler, die Verfahren gegen George Grosz wegen Gotteslästerung (1930 und 1931) sowie der Weltbühne-Prozess gegen Carl von Ossietzky (1931).
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Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkt sich auch im Reichsgericht umgehend aus: Missliebige Richter werden entlassen, andere treten der NSDAP bei.
Der Reichspräsident ernennt am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler und löst am 1. Februar 1933 den Reichstag auf. Am Abend des 27. Februar 1933 steht das Reichstagsgebäude in Flammen. Die Nationalsozialisten stellen den Brand umgehend als Teil eines kommunistischen Aufstands dar. Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (sogenannte Reichstagsbrandverordnung) setzt die wesentlichen Grundrechte der Verfassung außer Kraft. Polizei und SA verhaften zehntausende Gegner der Nationalsozialisten. Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 erhält die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen. Aufgrund des im darauffolgenden Monat verkündeten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums werden sieben Reichsgerichtsräte jüdischen Glaubens zwangspensioniert. Die ersten vier Richter des Reichsgerichts treten der NSDAP bei.
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21. September - 23. Dezember 1933Wegen des Reichstagsbrandes verurteilt das Reichsgericht den Niederländer Marinus van der Lubbe zum Tode, spricht jedoch die vier mitangeklagten Kommunisten frei.
Angeklagt werden vor dem Reichsgericht neben Marinus van der Lubbe der Vorsitzende der KPD-Reichstagsfraktion Ernst Torgler, der spätere bulgarische Ministerpräsident Georgi Dimitroff sowie zwei weitere bulgarische Kommunisten. Das Reichsgericht inszeniert das Verfahren entgegen der Wünsche der Nationalsozialisten nicht als Schauprozess mit einer schnellen Verurteilung aller Angeklagten zum Tode. Stattdessen spricht es nach mehrwöchiger Verhandlung, die rechtsstaatlichen Anforderungen gleichwohl nicht genügt, die vier kommunistischen Angeklagten frei. Allein Marinus van der Lubbe verurteilt das Gericht – trotz der auch nach damaligen Rechtsgrundsätzen unzulässigen rückwirkenden Einführung der Todesstrafe – zum Tode. Infolgedessen entzieht die Reichsregierung dem Reichsgericht die Zuständigkeit für Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats und überträgt diese dem neu gebildeten Volksgerichtshof in Berlin.
Mehrere Versuche der Familie van der Lubbe nach 1945, die Verurteilung aufzuheben, scheitern. Erst im Jahr 2007 stellt die Bundesanwaltschaft fest, dass das Urteil aufgrund des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998 aufgehoben ist. Ob van der Lubbe den Brand alleine gelegt hat oder ob er von den Nationalsozialisten unterstützt oder instrumentalisiert wurde, ist bis heute umstritten.
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April 1945Mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen endet die Tätigkeit des Reichsgerichts. Eine Würdigung seiner Rechtsprechung von 1879 bis 1945 fällt zwiespältig aus.
Die Tätigkeit des Reichsgerichts endet mit dem Einmarsch der amerikanischen Armee in Leipzig im April 1945. Der letzte Präsident des Reichsgerichts, Erwin Bumke, begeht Selbstmord. Nach der Übergabe der Stadt an die sowjetischen Besatzungstruppen verhaften diese in Leipzig verbliebene 38 Richter und Reichsanwälte des Reichsgerichts. Nur drei der Inhaftierten überleben die Lagerhaft.
Eine zusammenfassende Würdigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts fällt zwiespältig aus. Von seiner Gründung bis zum Jahr 1933 prägt das Gericht in einer Vielzahl bahnbrechender zivilrechtlicher Entscheidungen Grundsätze, von denen viele bis heute gültig sind. Sein hierauf gründender Ruf reicht weit über Deutschlands Grenzen hinaus. So wegweisend die Rechtsprechung bis dahin ist, umso unheilvoller ist ihr Niedergang nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten: Bereitwillig öffnet das Reichsgericht das Zivilrecht der menschenverachtenden völkischen Ideologie. So entscheidet es bereits 1934, eine Unkenntnis des Ehegatten von der Zugehörigkeit des anderen Ehegatten zur „jüdischen Rasse“ berechtige zur Anfechtung der Eheschließung.
Eine ähnliche, indes nach 1933 noch schlimmere Entwicklung zeigt seine Rechtsprechung zum Strafrecht. Auf die Herleitung von Grundsätzen, welche auch heute noch Anerkennung erfahren, folgt nach der Machtergreifung eine völlige Unterwerfung unter das nationalsozialistische Unrecht. Zahlreiche Entscheidungen zur sogenannten Blutschutzgesetzgebung sind nur ein Beispiel für die Bereitschaft, diesem durch eine exzessive Gesetzesauslegung weitreichende - sogar über den Wortlaut hinausgehende - Geltung zu verschaffen.
Zwar gibt es auch Fälle, in denen sich das Gericht einer Einflussnahme der Nationalsozialisten widersetzt. Auch zeigen Persönlichkeiten wie Hans von Dohnanyi, von 1938 bis 1941 Richter am Reichsgericht, dass sich nicht alle Richter dem Unrechtsregime widerstandslos hingeben. Hierbei handelt es sich indes um Ausnahmen.
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Zu DDR-Zeiten wird das Gebäude teilweise restauriert und unter anderem als Museum genutzt.
Im Mai 1952 zieht das Museum der bildenden Künste in das Reichsgerichtsgebäude. Im darauffolgenden Monat wird dort das Georgi-Dimitroff-Museum eröffnet, welches - unter anderem durch eine Rekonstruktion der Möblierung des Großen Sitzungssaals - den Reichstagsbrandprozess sowie die Verteidigung Dimitroffs darstellt. Nachfolgend nutzen weitere Institutionen das Gebäude. Unter anderem richtet die DEFA im ehemaligen Festsaal ein Tonstudio ein. Nachdem das stark kriegsbeschädigte Gebäude bereits Anfang der 1950er Jahre in Teilen wieder hergestellt worden war, erfolgt zwischen 1980 und 1983 eine weitere Restaurierung des Gerichtsgebäudes, insbesondere des Großen Sitzungssaals und der Kuppelhalle.
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Nach der Wiedervereinigung entscheidet der Bundestag, dass das Reichsgerichtsgebäude künftig durch das Bundesverwaltungsgericht genutzt wird.
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland empfiehlt die Föderalismuskommission des Bundes und der Länder im Mai 1992 den Umzug des Bundesverwaltungsgerichts von Berlin nach Leipzig. Der Bundestag nimmt die Beschlüsse der Kommission im darauffolgenden Monat zustimmend zur Kenntnis. Im November 1997 bestimmt er endgültig Leipzig zum neuen Sitz des Bundesverwaltungsgerichts.
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1998-2002In vierjähriger Bauzeit wird das Gebäude umfassend restauriert und modernisiert.
Durch umfassende Sanierungs- und Umbaumaßnahmen wird das Gebäude zwischen 1998 und 2002 weitestgehend in seinen ursprünglichen Zustand versetzt und den Bedürfnissen für eine Nutzung durch das Bundesverwaltungsgericht angepasst. Unter anderem wird das Gebäude um ein viertes Geschoss ergänzt und barrierefrei ausgestaltet. Die Kosten für Sanierung und Umbau belaufen sich auf 65,5 Mio. €.
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26. August 2002Im August 2002 nimmt das Bundesverwaltungsgericht seine Tätigkeit im Reichsgerichtsgebäude auf.
Am 26. August 2002 nimmt das Bundesverwaltungsgericht seine Tätigkeit im Reichsgerichtsgebäude auf. Die feierliche Einweihung findet am 12. September 2002 statt. Damit wird das Gebäude nach 57 Jahren wieder für ein oberstes deutsches Gericht genutzt.