Beschluss vom 19.11.2024 -
BVerwG 4 BN 13.24ECLI:DE:BVerwG:2024:191124B4BN13.24.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.11.2024 - 4 BN 13.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2024:191124B4BN13.24.0]

Beschluss

BVerwG 4 BN 13.24

  • OVG Schleswig - 24.01.2024 - AZ: 5 KN 33/21

In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. November 2024
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Stamm
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Schleswig-Holstein vom 24. Januar 2024 wird zurückgewiesen.
  2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Mit den geltend gemachten Verfahrensrügen dringt die Beschwerde nicht durch.

3 a) Zu Unrecht meint die Beschwerde der Sache nach, der angegriffene Beschluss habe gemäß § 117 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit der Eingangsformel "Im Namen des Volkes" versehen werden müssen. Die Verweisung in § 122 VwGO, die bestimmte Vorschriften über das gerichtliche Verfahren auf Beschlüsse für entsprechend anwendbar erklärt, § 117 VwGO jedoch nicht erwähnt, ist zwar nicht als abschließend zu verstehen. Vielmehr findet § 117 VwGO auf urteilsersetzende Beschlüsse Anwendung, soweit die Vorschrift formale und inhaltliche Anforderungen formuliert, denen auch Beschlüsse ungeachtet des Vereinfachungszwecks aufgrund ihrer Funktion zu entsprechen haben (BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 1999 - 6 C 31.98 - BVerwGE 109, 336 <343>; Beschluss vom 15. Dezember 2020 - 3 B 34.19 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 54 Rn. 7). Dazu zählt § 117 Abs. 1 Satz 1 VwGO aber nicht, der gerade der besonderen und herausgehobenen Entscheidungsform des Urteils Rechnung trägt (BVerwG, Beschluss vom 28. Juli 2021 - 3 BN 4.21 - juris Rn. 10; siehe Kilian/Hissnauer, in: Sodan/‌Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 122 Rn. 15).

4 Im Übrigen bliebe eine Verletzung von § 117 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wenn er anwendbar wäre, ohnehin prozessual folgenlos (vgl. statt aller Kuhlmann/‌Wysk, in: Wysk, VwGO, 4. Aufl. 2025, § 132 Rn. 34 m. w. N.).

5 b) Ohne Erfolg macht die Antragstellerin geltend, dass die formellen und materiellen Voraussetzungen, unter denen gemäß § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO - in Abkehr von der Regel der vorherigen Durchführung einer mündlichen Verhandlung - im Beschlusswege über einen Normenkontrollantrag entschieden werden kann, nicht vorgelegen hätten und folglich ein Gehörsverstoß gegeben sei.

6 § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO macht die Entscheidung durch Beschluss nicht vom Einverständnis der Beteiligten abhängig. Über die Entbehrlichkeit einer mündlichen Verhandlung entscheidet das Normenkontrollgericht nach richterlichem Ermessen. Für die Ermessensausübung kommt es darauf an, ob der Entscheidung ein unstreitiger oder umfassend aufgeklärter Sachverhalt zugrunde liegt und ob die entscheidungserheblichen Rechtsfragen in den Schriftsätzen der Beteiligten ausreichend erörtert worden sind. Das Normenkontrollgericht ist zudem verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, zu beachten (BVerwG, Beschlüsse vom 31. März 2011 - 4 BN 18.10 - juris Rn. 29, vom 30. November 2017 - 6 BN 1.17 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 212 Rn. 15 ff. und vom 23. Juni 2020 - 8 BN 1.20 - NVwZ-RR 2021, 8 Rn. 15).

7 aa) Soweit die Antragstellerin eine unzureichende Anhörung vor Erlass des Beschlusses beanstandet, kann dahinstehen, ob weiterhin an der Rechtsprechung festzuhalten ist, wonach es einer Anhörung, die im Unterschied zur Regelung zum Berufungsverfahren in § 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist, regelhaft nicht bedarf (so insbesondere BVerwG, Beschlüsse vom 8. September 1988 - 4 NB 15.88 - Buchholz 406.11 § 1 BBauG/BauGB Nr. 34 S. 11 und vom 31. März 2011 - 4 BN 18.10 - juris Rn. 30; offengelassen in Beschlüssen vom 8. September 2020 - 4 BN 17.20 - juris Rn. 3 und vom 7. Dezember 2021 - 4 BN 18.21 - BRS Bd. 89 Nr. 172 S. 1040 f.).

8 Denn die Antragstellerin wurde vom Oberverwaltungsgericht mit Schreiben vom 20. November 2023 darauf hingewiesen, dass es vor dem Hintergrund der in den Schriftsätzen der Beteiligten erörterten Frage der Unzulässigkeit des Antrags eine Entscheidung im Beschlusswege erwäge; zugleich wurde der ins Auge gefasste Zeitpunkt für eine Beschlussfassung genannt. Vor diesem Hintergrund konnte die Antragstellerin weder in der Sache noch vom zeitlichen Ablauf von der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in einer Weise überrascht werden, die auf eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. September 1988 - 4 NB 15.88 - Buchholz 406.11 § 1 BBauG/BauGB Nr. 34 S. 11). Die Antragstellerin hatte aufgrund der gerichtlichen Mitteilung die Gelegenheit, nochmals insbesondere zu der vom Oberverwaltungsgericht als entscheidungserheblich benannten Rechtsfrage der doppelten Rechtshängigkeit Stellung zu nehmen, deren Beantwortung für die Wahl der Entscheidungsform ausschlaggebend war. Von einem bloß "formularmäßig" und ohne Fallbezug erteilten Hinweis kann entgegen dem Einwand der Antragstellerin keine Rede sein. Diese Möglichkeit zur Stellungnahme war nicht deswegen unzureichend und gar entwertet, weil das Oberverwaltungsgericht zutreffend darauf verwiesen hat, dass die Beteiligten zur Zulässigkeitsfrage bereits vorgetragen hätten. Auch ist unbeachtlich, dass die Antragstellerin sich in der Antragsbegründung - einer verbreiteten anwaltlichen Übung entsprechend - weiteres Vorbringen vorbehalten, vor dem Hinweis des Weiteren auf den Fortgang des Verfahrens durch Anberaumung einer mündlichen Verhandlung gedrängt und der Antragsgegner in der Antragserwiderung auf eine noch nachzureichende inhaltliche Erwiderung verwiesen hatte. Gleichwohl war die Antragstellerin angesichts der in § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO ermöglichten Verfahrensweise gehalten, sich - falls aus ihrer Sicht geboten - durch eine Stellungnahme Gehör zu verschaffen. Wenn sie davon abgesehen hat, kann ein solches Versäumnis nicht durch eine Verfahrensrüge kompensiert werden.

9 bb) Das Oberverwaltungsgericht hat von dem ihm eingeräumten Ermessen, über den Antrag im Beschlusswege ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht. Es hat insbesondere die Vorgaben aus Art. 6 Abs. 1 EMRK beachtet. Diese Vorschrift hat es zu Recht als anwendbar angesehen, weil mit den Festlegungen für die Windenergienutzung im angegriffenen Regionalplan Inhalt und Schranken des Grundeigentums bestimmt werden; dieses zählt zu den zivilrechtlichen Ansprüchen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK.

10 Eine hiernach grundsätzlich gebotene mündliche Verhandlung ist jedoch dann entbehrlich, wenn der Normenkontrollantrag offensichtlich unzulässig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <215>; siehe auch Beschlüsse vom 12. November 2019 - 6 BN 2.19 - Buchholz 11 Art. 19 Abs. 4 GG Nr. 16 Rn. 8, vom 2. Juni 2021 - 5 BN 1.21 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 223 Rn. 5 und vom 28. Juli 2021 - 3 BN 4.21 - juris Rn. 9).

11 Zu Recht hat das Oberverwaltungsgericht angenommen, dass der Normenkontrollantrag angesichts der beiden bereits zwei Tage zuvor von der Antragstellerin anhängig gemachten, gegen denselben Regionalplan gerichteten Normenkontrollanträge wegen anderweitiger Rechtshängigkeit - und damit offensichtlich - unzulässig war (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Denn der Streitgegenstand des zuletzt anhängig gemachten Normenkontrollantrags ist ungeachtet des jeweils auf unterschiedliche Betroffenheiten bezogenen Vorbringens in allen drei Verfahren mit dem der früher eingereichten Normenkontrollanträge identisch.

12 Nach dem auch im Verwaltungsprozess zugrunde zu legenden zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff ist der Streitgegenstand identisch mit dem prozessualen Anspruch, der durch die erstrebte, im Klageantrag zum Ausdruck gebrachte Rechtsfolge sowie durch den Klagegrund, nämlich den Sachverhalt, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll, gekennzeichnet ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Mai 1994 - 9 C 501.93 - BVerwGE 96, 24 <25>, vom 31. August 2011 ‌- 8 C 15.10 - BVerwGE 140, 290 Rn. 20, vom 14. November 2016 - 5 C 10.15 D -‌ BVerwGE 156, 229 Rn. 17; zuletzt Urteil vom 31. August 2022 - 6 A 9.20 -‌ BVerwGE 176, 224 Rn. 26).

13 Allerdings kommt dem Vortrag des Klägers bei der Bestimmung des Streitgegenstandes nur Anstoßfunktion zu. Als prozessualer Anspruch wird er zunächst durch die im Prozessrecht vorgegebenen Rechtsschutzformen mitbestimmt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Mai 2016 - 7 C 7.15 - AfP 2016, 564 Rn. 4), wobei die gewählte Fassung des Klageantrags nicht maßgeblich ist (§ 88 VwGO). Auch wird der Streitgegenstand nicht durch den ausdrücklich vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt beschränkt. Der Kläger hat es nicht in der Hand, den vorgegebenen Streitgegenstand in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu verengen, noch kann er verlangen, dass einzelne entscheidungserhebliche Sachverhaltselemente außer Betracht zu bleiben hätten (BVerwG, Urteil vom 26. Oktober 2006 ‌- 10 C 12.05 - Buchholz 424.01 § 44 FlurbG Nr. 83 Rn. 19 sowie Beschluss vom 7. März 2016 - 7 B 45.15 - NVwZ 2017, 242 Rn. 6).

14 Hiernach ist beim Normenkontrollantrag nach § 47 VwGO, der im weiteren Sinne den Feststellungsklagen zuzurechnen ist, Streitgegenstand die allein objektiv-rechtlich zu beurteilende Frage der Gültigkeit der Rechtsnorm (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1984 - 3 C 88.82 - BVerwGE 68, 306 <310>; Beschlüsse vom 2. September 1983 - 4 N 1.83 - BVerwGE 68, 12 <16> und vom 29. Januar 1992 - 4 NB 22.90 - NVwZ 1992, 662). Diese Frage ist auf einen bestimmten, die Norm als Ganzes betreffenden Sachverhalt bezogen. Bei Änderung der insoweit der Prüfung zugrunde liegenden Sach- und Rechtslage ergibt sich ein neuer Streitgegenstand mit der Folge, dass die Bindungswirkung eines rechtskräftigen, den Normenkontrollantrag abweisenden Urteils entfällt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 16. Juli 1990 - 4 NB 20.90 - NVwZ-RR 1991, 54 und vom 3. November 1993 - 4 NB 33.93 - NVwZ-RR 1994, 236; BGH, Urteil vom 8. Juli 2010 - III ZR 221/09 - BGHZ 186, 136 Rn. 26).

15 In diesem Sinne unterschiedliche Sachverhalte stehen nicht in Rede, soweit die Antragstellerin darauf verweist, dass sie in den anhängigen Normenkontrollverfahren ihre Antragsbefugnis auf je verschiedene Betroffenheiten in jeweils anderen von der angegriffenen Norm überplanten Bereichen stützt. Denn davon bleibt der einheitliche Streitgegenstand, der ungeachtet individueller Betroffenheiten und subjektiven Rechtsverletzungen im Normenkontrollverfahren als einem objektiven Rechtsbeanstandungsverfahren durch den gesamten, der Rechtsnorm zugrundeliegenden Sachverhalt gekennzeichnet ist, unberührt. Die Normenkontrolle nach § 47 VwGO enthält zwar zugleich ein Element des subjektiven Rechtsschutzes (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2020 ‌- 4 CN 9.19 - NVwZ 2021, 331 Rn. 12 m. w. N.). Dies zeigt sich allerdings allein in der Regelung der Antragsbefugnis, die für die Bestimmung des Streitgegenstandes ohne Bedeutung ist.

16 Soweit die Beschwerde vorträgt, sie verfolge mit den Normenkontrollverfahren jeweils andere Vorhaben, nämlich die Errichtung von Windenergieanlagen an unterschiedlichen Standorten, wird damit lediglich eine für die Bestimmung des Streitgegenstandes wiederum unbeachtliche Motivation für die Inanspruchnahme von Rechtsschutz benannt.

17 Schließlich führt auch der Einwand nicht weiter, der Umfang der gerichtlichen Prüfung sei jedenfalls in der Praxis auf die Bewertung des Sachverhalts beschränkt, aus dem die Antragsbefugnis hergeleitet werde. Denn ein solches Vorgehen stünde in offensichtlichem Widerspruch zur Ausgestaltung des Normenkontrollverfahrens als objektives Rechtsbeanstandungsverfahren. Danach ist das Normenkontrollgericht verpflichtet, auch ohne entsprechende Rüge, die angegriffene Norm unter jedem denkbaren Gesichtspunkt auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen; es gibt vor dem Hintergrund des § 86 VwGO kein Verbot, ungefragt auf Fehlersuche zu gehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2020 ‌- 4 CN 9.19 - NVwZ 2021, 331 Rn. 14 m. w. N.). Es bleibt letztlich auch unerfindlich, was einen Antragsteller, nach dessen Auffassung die angegriffene Norm an verschiedenen Rechtsmängeln leidet, daran hindern sollte, dies - im Übrigen auch unter Verringerung des Kostenrisikos - gebündelt in einem Verfahren vorzubringen.

18 2. Die Grundsatzrüge führt ebenso wenig zur Zulassung der Revision.

19 Der von der Antragstellerin aufgeworfenen Fragen,
ob das OVG Schleswig nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung zur Frage der doppelten Rechtshängigkeit und der Auslegung des zweigliedrigen Streitgegenstandes hätte entscheiden dürfen,
und
ob zwei oder mehrere Bauvorhaben an anderen Standorten denselben Streitgegenstand bilden und daher zur doppelten oder mehrfachen Rechtshängigkeit führen können,
kommt nicht die grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu, die die Antragstellerin ihnen beimisst.

20 Soweit sich die Fragen bei wohlwollendem Verständnis zum einen auf die rechtlichen Maßstäbe für die Ermessensausübung im Rahmen des § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO, zum anderen auf den Streitgegenstand einer Normenkontrolle beziehen, sind sie - soweit einer verallgemeinerungsfähigen fallübergreifenden Beantwortung zugänglich - bereits geklärt, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen unter 1.b) ergibt. Ein weitergehender Klärungsbedarf wird nicht dargelegt.

21 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.