Beschluss vom 15.06.2009 -
BVerwG 2 B 38.09ECLI:DE:BVerwG:2009:150609B2B38.09.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 15.06.2009 - 2 B 38.09 - [ECLI:DE:BVerwG:2009:150609B2B38.09.0]
Beschluss
BVerwG 2 B 38.09
- OVG der Freien Hansestadt Bremen - 29.10.2008 - AZ: OVG 2 A 38/05
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Juni 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Groepper und Dr. Burmeister
beschlossen:
- Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 29. Oktober 2008 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 832 € festgesetzt.
Gründe
1 Die allein auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
2 Der Kläger rügt als verfahrensfehlerhaft, das Berufungsgericht sei von einem falschen, nämlich unvollständigen Sachverhalt ausgegangen, indem es sich ausschließlich auf die Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen gestützt und den Akteninhalt nicht herangezogen habe. Der Kläger erhebt diesen Vorwurf vor dem Hintergrund, dass er nach einem anerkannten Dienstunfall die Anerkennung eines Minderungsgrades seiner Erwerbsfähigkeit von mehr als 20 % und auf dieser Grundlage einen Unfallausgleich nach § 35 Abs. 1 BeamtVG erstrebt.
3 Der geltend gemachte Verfahrensfehler, bei dem es sich im Kern um eine Verletzung der Aufklärungspflicht - § 86 Abs. 1 VwGO - handelt, lässt sich nicht feststellen.
4 Für die Feststellung eines Verfahrensfehlers ist von der materiellrechtlichen Rechtsauffassung des Berufungsgerichts auszugehen (vgl. Beschlüsse vom 23. Januar 1996 - BVerwG 11 B 150.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 3 VwGO Nr. 14; vom 18. Juni 1998 - BVerwG 8 B 56.98 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 154, stRspr). Mit der Begründung, es sei nicht Aufgabe des Gerichts, den für die Gewährung von Unfallausgleich maßgeblichen, Veränderungen unterworfenen Gesundheitszustand des Beamten während des gerichtlichen Verfahrens rechtlich unter Kontrolle zu halten, hat das Berufungsgericht die Auffassung vertreten, maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Gewährung eines Unfallausgleichs vorlägen, sei die Sach- und Rechtslage bei Abschluss des Verwaltungsverfahren, hier also des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2002. Auf der Grundlage dieser Auffassung hat es dem gerichtlich bestellten Gutachter die Fragen vorgelegt, ob bei dem Kläger eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 30 % vorliege, falls ja, ob sich der 1999 erlittene Dienstunfall als wesentliche Mitursache darstelle und ob die so verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 % bereits am 29. Dezember 2000 bestanden habe; falls nein, wann dieser Wert überschritten worden sei.
5 In seinem Gutachten vom 1. Februar 2008 hat der Sachverständige zusammenfassend ausgeführt, dass sich aus psychiatrisch-psychologischer Sicht eine Änderung der bisherigen Schweregradsbeurteilung (20 %) nicht begründen lasse. Auf der Grundlage dieses Gutachtens und der in der mündlichen Verhandlung gegebenen Erläuterungen hat das Berufungsgericht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts bestätigt.
6 Die Angriffe der Beschwerde gehen fehl.
7 Hat das Gericht mangels eigener Sachkunde ein Sachverständigengutachten eingeholt, so kann es sich in der Regel auf dessen Aussagen stützen, soweit gegen das Gutachten nicht durchgreifende Mängel geltend gemacht oder ersichtlich sind. Das Prozessgericht kann sich auf die Ernennung eines einzigen Sachverständigen beschränken (§ 98 VwGO i.V.m. § 404 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 412 ZPO). Die Entscheidung darüber, ob ein weiteres Gutachten eingeholt werden soll, steht im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 VwGO) im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts. Dieses Ermessen wird nur dann verfahrensfehlerhaft ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung eines - weiteren - Gutachtens oder eines Obergutachtens absieht, obwohl die Notwendigkeit dieser weiteren Beweiserhebung sich ihm hätte aufdrängen müssen. Reicht ein bereits eingeholtes Gutachten aus, um das Gericht in die Lage zu versetzen, die entscheidungserheblichen Fragen sachkundig zu beurteilen, ist die Einholung eines weiteren Gutachtens oder Obergutachtens weder notwendig noch veranlasst. Die Nichteinholung eines weiteren Gutachtens ist in aller Regel nur dann verfahrensfehlerhaft, wenn das bereits vorliegende Gutachten auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist, insbesondere von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare Widersprüche aufweist, wenn Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen besteht, wenn ein anderer Sachverständiger über bessere Forschungsmittel verfügt oder wenn es sich um besonders schwierige (medizinische) Fragen handelt, die umstritten sind oder zu denen einander widersprechende Gutachten vorliegen (vgl. Urteil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <45> m.w.N.; Beschluss vom 29. Mai 2009 - BVerwG 2 B 3.09 - zur Veröffentlichung bestimmt; stRspr).
8 Derartige grobe Mängel des vom Verwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachtens des Gutachters Dr. S. vom 1. Februar 2008 sind nicht ersichtlich. Aus dem Gutachten wird erkennbar, dass der Gutachter nicht nur den Kläger untersucht, sondern auch den Akteninhalt umfassend ausgewertet und dabei die zahlreichen dort vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen berücksichtigt hat. Auch das Berufungsgericht hat den Sachverhalt durch weitere, im angegriffenen Urteil erwähnte Maßnahmen aufgeklärt, darunter durch die Stellungnahme des Amtsarztes. Unter diesen Umständen kann keine Rede davon sein, das Berufungsgericht sei von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen und habe den Akteninhalt nicht herangezogen, aus dem sich der vollständige Sachverhalt ergebe. Allerdings hat es diesen Akteninhalt anders gewürdigt als es der Kläger für geboten hält. Die fehlerhafte Würdigung tatsächlicher Feststellungen ist jedoch kein Verfahrensfehler, sondern dem materiellen Recht zuzurechnen.
9 Die Beschwerde beanstandet weiterhin, dass sich das Gutachten nicht „retrospektiv“ auf den Gesundheitszustand des Klägers zum maßgeblichen Zeitpunkt - 2002 - richte, sondern sich ausschließlich mit dem „Istzustand“ im Dezember 2007 befasse. Auch dieser Vorwurf geht fehl. Ein medizinisches Gutachten kann stets nur den Gesundheitszustand des untersuchten Patienten zum Untersuchungszeitpunkt feststellen; der Zustand zu einem früheren Zeitpunkt kann naturgemäß nur Gegenstand eines Rückschlusses sein, der sich je nach den Umständen mit mehr oder weniger großer Sicherheit ziehen lässt. Der Gutachter selbst hat die Unsicherheit eines derartigen Rückschlusses in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30. April 2008 (GA Bl. 378) mit dem Satz eingeräumt, es erscheine ihm allenfalls bedingt machbar, über das Befinden des Klägers am 29. Dezember 2000 aus heutiger Sicht (2008) eine valide Einschätzung abzugeben. In der mündlichen Verhandlung hat er ergänzt, zum jetzigen Zeitpunkt sei es nicht gerechtfertigt, die Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 auf 30 % zu erhöhen (GA Bl. 433). Diese Einschätzung ist weder unlogisch noch widerspricht sie Denkgesetzen. Wenn sich das Berufungsgericht nach sorgfältiger Ermittlung diesen Ausführungen anschließt, liegt darin kein Verfahrensfehler im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO.
10 Weiterhin beanstandet die Beschwerde, der Gutachter und ihm folgend das Berufungsgericht hätten die depressive Verstimmung des Klägers nicht zutreffend aufgeklärt. In diesem Zusammenhang macht sie geltend, bei korrekter Aktenauswertung hätte sich dem Gutachter erschließen müssen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt beim Kläger eine depressive Verstimmung bestanden habe, während vor diesem Zeitpunkt und auch 2007 eine solche Verstimmung nicht vorgelegen habe. Der Gutachter habe dabei das frühere Gutachten des Dr. Sch. nicht „in die eigenen Betrachtungen mit einfließen lassen“. Dass dieser Vorwurf unzutreffend ist, ergibt sich aus dem Gutachten selbst, in welchem der Inhalt dieses neurologischen Gutachtens referiert wird (Gutachten S. 7/8, GA Bl. 314 f). Das Gutachten befasst sich darüber hinaus über mehrere Seiten mit dieser Frage, wobei auch die medikamentöse Behandlung des Klägers erwähnt wird, deren Würdigung die Beschwerde vermisst. Die Frage ist im Übrigen auch ausführlich in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erörtert worden; der Gutachter hat dabei seine gutachtlichen Äußerungen erläutert und vertieft. Auch hier beanstandet die Beschwerde in Wirklichkeit, dass der Gutachter und ihm folgend das Gericht die Einschätzung des Dr. Sch., der einen Grad der Behinderung von 50 % angenommen hatte, nicht übernommen hat.
11 Schließlich rügt die Beschwerde, das gerichtliche Gutachten habe sich nur auf das psychiatrisch-psychologische Fachgebiet bezogen und orthopädische Gesichtspunkte - insbesondere ein als Folge des Dienstunfalls aufgetretenes Bandscheibenleiden - bei der Bewertung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit außer Acht gelassen. Auch diese Rüge greift nicht durch. Es trifft bereits nicht zu, dass Dr. W. am 4. März 1999 beim Kläger „ein lumbosacrales Bandscheibenkompressionssyndrom“ festgestellt habe (vgl. GA Bl. 367). Soweit in den vom Kläger überreichten medizinischen Befundberichten überhaupt von einem solchen Syndrom die Rede ist, wird es als „in Rückbildung begriffen“ beschrieben; ein Bandscheibenvorfall wird ausgeschlossen (GA Bl. 368). Der Gutachter hat sich mit dem Vorhandensein dieses Syndroms einschließlich der vom Kläger genannten Erkenntnisquellen ausdrücklich auseinandergesetzt (S. 26/27, GA Bl. 333/334). Warum der Gutachter diesem Befund keine maßgebliche Auswirkung auf den Grad der Erwerbsminderung zuerkannt hat, hat er ebenfalls in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erläutert. Sein Vortrag hält sich im Rahmen seines fachlichen Sachverstandes und beruht nicht auf aktenwidrigen Feststellungen. Die Ausführungen des Gutachters haben den anwaltlich vertretenen Kläger nicht veranlasst, die Einholung eines weiteren Gutachtens zu beantragen.
12 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.