Beschluss vom 07.12.2023 -
BVerwG 2 B 14.23ECLI:DE:BVerwG:2023:071223B2B14.23.0
Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 130a VwGO
Leitsatz:
Die Erwägung, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung führe zu einer weiteren Verzögerung des seit fast drei Jahren in der Berufungsinstanz anhängigen Verfahrens, rechtfertigt den Erlass eines Beschlusses nach § 130a Satz 1 VwGO nicht.
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Rechtsquellen
VwGO § 130a Satz 1, § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6, § 138 Nr. 1 und 3 LDG NRW § 47 Abs. 2 Satz 1, § 51 Abs. 2 Satz 1 und 2 -
Instanzenzug
VG Düsseldorf - 06.01.2020 - AZ: 38 K 5465/19.BDG
OVG Münster - 21.12.2022 - AZ: 31 A 496/20.BDG
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 07.12.2023 - 2 B 14.23 - [ECLI:DE:BVerwG:2023:071223B2B14.23.0]
Beschluss
BVerwG 2 B 14.23
- VG Düsseldorf - 06.01.2020 - AZ: 38 K 5465/19.BDG
- OVG Münster - 21.12.2022 - AZ: 31 A 496/20.BDG
In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Dezember 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Hissnauer
beschlossen:
- Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 2022 wird aufgehoben.
- Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
- Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
1 Der Kläger wendet sich gegen eine Disziplinarverfügung.
2 1. Der 1969 geborene und disziplinarrechtlich vorbelastete Kläger steht als Polizeiobermeister im Dienst der Beklagten. Die Bundespolizeidirektion D. leitete im August 2017 ein weiteres Disziplinarverfahren gegen ihn ein, das sie in der Folgezeit zweimal ausdehnte. Hierbei machte sie dem Kläger zum Vorwurf, sich wiederholt ohne die Vorlage von Attesten krank gemeldet zu haben, sich im Zusammenhang mit der Mitteilung über die Einleitung des Disziplinarverfahrens mehrfach über die Leitung der Bundespolizeidirektion im Allgemeinen und den Inspektionsleiter im Besonderen abfällig und geringschätzig geäußert zu haben sowie der Aufforderung zur Vorstellung beim Sozialmedizinischen Dienst zwecks Feststellung der (Polizei-)Dienstfähigkeit nicht und der Aufforderung zur Vorlage täglicher Arbeitsergebnisse lediglich wenige Male nachgekommen zu sein.
3 Mit Verfügung vom Dezember 2018 sprach die Bundespolizeidirektion S. gegen den Kläger nach dessen Anhörung eine Kürzung der Dienstbezüge um ein Zehntel für ein Jahr aus. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Auf den im Februar 2020 vom Kläger gestellten und im März 2020 begründeten Antrag auf Zulassung der Berufung ließ das Berufungsgericht mit Beschluss vom 11. Juli 2022 die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils zu.
4 Nach Vorlage der Untersuchungsaufforderungen von April und September 2017 setzte das Berufungsgericht die Beteiligten unter dem 9. November 2022 von seiner Absicht in Kenntnis, über die Berufung durch Beschluss zu entscheiden, weil es sie "einstimmig für begründet" halte, und gab Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 27. November 2022. Unter dem 21. November 2022, den Beteiligten zugestellt am 25. November 2022, berichtigte das Berufungsgericht seinen Hinweis dahingehend, dass es die Berufung "einstimmig für unbegründet" halte, und gab erneut Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 27. November 2022.
5 Hierauf beantragte der Kläger nach gewährter Fristverlängerung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Verweis auf deren Sinn und Zweck sowie den Grund für die Zulassung der Berufung.
6 Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 21. Dezember 2022 die Berufung des Klägers zurückgewiesen, weil das Verwaltungsgericht die Klage zu Recht abgewiesen habe. Seine Entscheidung, über die Berufung durch Beschluss zu entscheiden, hat es unter anderem damit begründet, dass mit der Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils keine Prognoseentscheidung über den Ausgang des Berufungsverfahrens einhergehe. Aufgrund der Aufforderung zur Vorlage der Untersuchungsanordnung sei zudem erkennbar gewesen, dass deren bisheriges Fehlen in den Verwaltungsvorgängen für die Zulassung der Berufung von Bedeutung gewesen sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einer weiteren Verzögerung des seit Anfang 2020 in der Berufungsinstanz anhängigen Verfahrens geführt hätte.
7 2. Auf die Beschwerde des Klägers ist der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der Berufungsentscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. Die Berufungsentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil das Berufungsgericht ermessensfehlerhaft von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen und über die Berufung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden hat, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorlagen. Dies begründet nicht nur eine Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO), sondern zugleich seines Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
8 a) Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Berufungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das Erfordernis der Einstimmigkeit erfüllt, liegt die Entscheidung über das Absehen von einer mündlichen Verhandlung im Ermessen des Berufungsgerichts. Ob das Berufungsgericht durch Beschluss nach § 130a VwGO entscheidet, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Revisionsgerichtlich ist dieses Ermessen nur daraufhin überprüfbar, ob sachfremde Erwägungen oder grobe Fehleinschätzungen vorgelegen haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 22; Beschlüsse vom 3. September 2015 - 2 B 29.14 - Buchholz 449.4 § 53 SVG Nr. 3 Rn. 21 und vom 29. Juni 2020 - 2 B 37.19 - juris Rn. 18).
9 Bei der Ermessensentscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO dürfen indes die Funktionen der mündlichen Verhandlung und ihre daraus erwachsende Bedeutung für den Rechtsschutz (Art. 6 Abs. 1 EMRK) nicht aus dem Blick geraten (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2023 - 5 C 8.21 - NVwZ 2023, 1417 Rn. 28; Beschlüsse vom 3. Dezember 2012 - 2 B 32.12 - juris Rn. 6, vom 20. Mai 2015 - 2 B 4.15 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 86 Rn. 6 und vom 29. Juni 2020 - 2 B 37.19 - juris Rn. 18). Jedenfalls dann, wenn - wie hier - ein Beteiligter der beabsichtigten Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO widerspricht, muss sich die Ausübung des Ermessens daran orientieren, dass die mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch im Berufungsverfahren die Regel, eine Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 130a VwGO die Ausnahme bildet (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. Juni 2020 - 2 B 37.19 - juris Rn. 18 und vom 27. November 2020 - 8 B 18.20 - juris Rn. 4). Diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis liegt die Vorstellung zugrunde, dass die gerichtliche Entscheidung grundsätzlich das Ergebnis eines diskursiven Prozesses zwischen Gericht und Beteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung sein soll (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 3. Dezember 2012 - 2 B 32.12 - juris Rn. 5, vom 20. Mai 2015 - 2 B 4.15 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 86 Rn. 5 und vom 21. Dezember 2020 - 2 B 63.20 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 104 Rn. 14).
10 Der Anwendungsbereich des § 130a Satz 1 VwGO ist zudem nach dem Zweck der Norm grundsätzlich auf einfach gelagerte Streitsachen beschränkt. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die umfassende Erörterung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte der Streitsache mit den Beteiligten in einer Berufungsverhandlung regelmäßig geeignet ist, die Richtigkeit und die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung zu fördern (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213 ff.>; Beschlüsse vom 20. Oktober 2011 - 2 B 63.11 - juris Rn. 6, vom 3. Dezember 2012 - 2 B 32.12 - juris Rn. 5, vom 20. Mai 2015 - 2 B 4.15 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 86 Rn. 5 und vom 29. Juni 2020 - 2 B 37.19 - juris Rn. 18).
11 b) Ausgehend hiervon liegt der geltend gemachte Verfahrensmangel vor. Das Berufungsgericht hat sich bei der Ausübung seines Ermessens von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Es hat die Durchführung der mündlichen Verhandlung mit Hinweis auf die Verfahrensdauer einer beschleunigten Erledigung des Rechtsstreits untergeordnet, obwohl diese nicht auf Umstände zurückzuführen ist, die dem Einfluss des Berufungsgerichts entzogen waren. Überdies hat es das berechtigte Interesse des Klägers an der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht hinreichend in seine Ermessenserwägungen eingestellt. Damit hat es die Funktion der mündlichen Verhandlung und deren Bedeutung für den Rechtsschutz verkannt.
12 Ergeht eine Entscheidung wie hier unter Verstoß gegen § 101 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO, begründet sie zugleich eine Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und stellt damit einen absoluten Revisionsgrund i. S. d. § 138 Nr. 3 VwGO dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 26 m. w. N.).
13 Zudem verletzt die ermessensfehlerhafte Entscheidung des Berufungsgerichts, nach § 130a Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren durch Beschluss zu entscheiden, das Recht der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und begründet damit einen absoluten Revisionsgrund i. S. d. § 138 Nr. 1 VwGO. Hiernach ist ein Urteil stets auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Ein die Voraussetzungen des § 138 Nr. 1 VwGO erfüllender Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann vorliegen, wenn eine durch eine fehlerhafte Entscheidung nach der Verfahrensvorschrift des § 130a Satz 1 VwGO bedingte Verletzung des Anspruchs auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts führt. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich der Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift - wie hier - als objektiv willkürliche, das heißt nicht mehr durch sachliche Erwägungen getragene Entscheidung darstellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2023 - 5 C 8.21 - NVwZ 2023, 1417 Rn. 32; Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 138 Rn. 38).
14 So liegt der Fall hier. Die Entscheidung hat zu einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung geführt, weil nach Landesrecht für das schriftliche Verfahren nach § 130a VwGO eine andere Besetzung des Gerichts als im Urteilsverfahren vorgesehen ist. Denn nach § 9 Abs. 3 VwGO, § 51 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 47 Abs. 2 Satz 1 LDG NRW wirken die ehrenamtlichen Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung abweichend von § 51 Abs. 2 Satz 1 LDG NRW nicht mit, sodass der Disziplinarsenat des Oberverwaltungsgerichts in solchen Fällen nur in der Besetzung von drei Berufsrichtern entscheidet. Die Rüge der Verletzung der Verfahrensnorm des § 130a Satz 1 VwGO umfasst - ebenso wie bei der Verletzung des rechtlichen Gehörs - bei der gebotenen rechtsschutzfreundlichen Auslegung auch die Rüge der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden fehlerhaften Besetzung des Gerichts (ähnlich BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2023 - 5 C 8.21 - NVwZ 2023, 1417 Rn. 32).
15 Liegen wie hier mit der Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 138 Nr. 3 VwGO) und dem Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (§ 138 Nr. 1 VwGO) absolute Revisionsgründe vor, wird unwiderleglich vermutet, dass die angegriffene Entscheidung auf diesem Mangel beruht (§ 137 Abs. 1 VwGO). Jedenfalls das Vorliegen des absoluten Revisionsgrundes einer nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 138 Nr. 1 VwGO) zwingt - die Durchführung eines Revisionsverfahrens unterstellt - zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. August 1996 - 8 C 19.95 - BVerwGE 102, 7 <11> und vom 2. Februar 2023 - 5 C 8.21 - NVwZ 2023, 1417 Rn. 35; s. auch Eichberger/Buchheister, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand März 2023, § 138 Rn. 24). Folglich kommt es nicht auf die Frage an, ob der Kläger den ebenfalls geltend gemachten Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt hat und dieser vorliegt. Der Senat macht daher unter Ausübung des ihm zustehenden Ermessens von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).