Beschluss vom 04.11.2019 -
BVerwG 1 B 78.19ECLI:DE:BVerwG:2019:041119B1B78.19.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 04.11.2019 - 1 B 78.19 - [ECLI:DE:BVerwG:2019:041119B1B78.19.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 78.19

  • VG Hannover - 09.04.2018 - AZ: VG 12 A 11529/17
  • OVG Lüneburg - 30.07.2019 - AZ: OVG 9 LB 133/19

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. November 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Böhmann
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. Juli 2019 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die allein auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - AuAS 2014, 110 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - juris Rn. 3).

3 Für die Zulassung der Revision reicht, anders als für die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO/§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 46.84 - BVerwGE 70, 24 <26>), eine Tatsachenfrage grundsätzlicher Bedeutung nicht aus. Die Klärungsbedürftigkeit muss vielmehr in Bezug auf den anzuwendenden rechtlichen Maßstab, nicht die richterliche Tatsachenwürdigung und -bewertung bestehen; auch der Umstand, dass das Ergebnis der zur Feststellung und Würdigung des Tatsachenstoffes berufenen Instanzgerichte für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung ist, lässt für sich allein nach geltendem Revisionszulassungsrecht eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Der Gesetzgeber hat insoweit auch für das gerichtliche Asylverfahren an den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts festgehalten und für das Bundesverwaltungsgericht keine Befugnis eröffnet, Tatsachen(würdigungs)fragen grundsätzlicher Bedeutung in "Länderleitentscheidungen", wie sie etwa das britische Prozessrecht kennt, zu beantworten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 28 - zur Feststellung einer extremen Gefahrenlage) haben sich allerdings die Berufungsgerichte nach § 108 VwGO (erkennbar) mit abweichenden Tatsachen- und Lagebeurteilungen anderer Oberverwaltungsgerichte/Verwaltungsgerichtshöfe auseinanderzusetzen.

4 2. Den Anforderungen an die Darlegung dieses Zulassungsgrundes (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) genügt die Beschwerde nicht.

5 Die vom Kläger aufgeworfenen Fragen
"1. Ob es beachtlich wahrscheinlich ist, dass in absehbarer Zeit erneut eine Gruppenverfolgungssituation zu Lasten von Yeziden aus dem Distrikt Sindjar in der Provinz Ninive im Nordirak durch die Terrormiliz IS im Falle ihrer Rückkehr in die Herkunftsregion entsteht.
2. Haben Mitglieder der verfolgten Gruppe gleichwohl einen Schutzanspruch, wenn die Gefahr besteht, dass sich in absehbarer Zeit erneut eine Gruppenverfolgungssituation entwickelt. "
bezeichnen im Kern keine Rechts-, sondern lediglich Tatsachenfragen (möglicherweise) grundsätzlicher Bedeutung. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Formulierung der ersten Frage, gilt indes auch für die zweite Frage. Denn sie wird nur und erst dann entscheidungserheblich, wenn sich aufgrund der Erkenntnislage tatsächlich die (hinreichende) Gefahr ergibt, dass sich in absehbarer Zeit erneut eine Gruppenverfolgungssituation entwickeln wird. Das Berufungsgericht ist indes aufgrund der im für die Bewertung entscheidenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verfügbaren Erkenntnisse zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden in dem Distrikt Sindjar der Provinz Ninive, der Herkunftsregion des Klägers, sowohl durch den irakischen Zentralstaat als auch durch den IS und sonstige Akteure nicht beachtlich wahrscheinlich ist (UA S. 19) und hat dies eingehend begründet. Selbst wenn zu Gunsten des Klägers angenommen werde, dass er bereits vor seiner Ausreise aus dem Irak als Yezide aus dem Distrikt Sindjar von einer Gruppenverfolgung bedroht gewesen sei, werde die dadurch begründete Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, dass eine Vorverfolgung oder eine frühere unmittelbare Bedrohung durch Verfolgung ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, im Fall des Klägers widerlegt; es sprächen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer solchen Gruppenverfolgung bedroht werde, da sich die Machtverhältnisse im Irak zwischenzeitlich entscheidend verändert hätten (UA S. 22) und sich derzeit keine durchgreifenden Anhaltspunkte für die Annahme ergäben, dass der IS in absehbarer Zeit in der Lage wäre, erneut den Distrikt Sindjar zu erobern und infolgedessen die dort lebenden Yeziden flächendeckend zu verfolgen (UA S. 23).

6 Die Beschwerde tritt dem mit einer Gefahrenprognose entgegen, die von jener des Berufungsgerichts abweicht, ohne - weder ausdrücklich noch in ihrer Begründung - insoweit eine grundsätzlicher Klärung bedürftige Frage des zugrunde liegenden rechtlichen Maßstabes zu bezeichnen. Die Berufung auf Erkenntnismittel, aus denen sich diese abweichende tatsächliche Würdigung ergeben soll, weist auch nicht ansatzweise auf eine Verfahrensrüge, welche die Zulassung der Revision begründen könnte.

7 3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

8 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.