Beschluss vom 30.06.2008 -
BVerwG 5 B 28.08ECLI:DE:BVerwG:2008:300608B5B28.08.0

Beschluss

BVerwG 5 B 28.08

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 09.11.2007 - AZ: OVG 2 A 4176/04

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juni 2008
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Franke und Dr. Brunn
beschlossen:

  1. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht Prozesskostenhilfe bewilligt. Ihr wird Rechtsanwältin ... in ... beigeordnet.
  2. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. November 2007 wird aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§ 166 VwGO, § 114 ZPO).

2 Die Beschwerde ist im Hinblick auf die angebrachte Verfahrensrüge begründet. Zur Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von seinem Ermessen Gebrauch, die Sache nach § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

3 Dem angefochtenen Urteil haftet ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO an. Vor dem Hintergrund der rechtlichen Annahmen des Oberverwaltungsgerichts zur entscheidungstragend herangezogenen Vorschrift des § 6 Abs. 2 Satz 4 BVFG hätte es den Versuch unternehmen müssen, sich entweder mit Hilfe einer persönlichen Anhörung der Klägerin nach § 103 Abs. 3, § 104 Abs. 1 VwGO oder einer Beteiligtenvernehmung („Parteivernehmung“ im Sinne der § 96 Abs. 1 Satz 2, § 98 VwGO i.V.m. §§ 450 ff. ZPO; vgl. Beschlüsse vom 16. Juli 1996 - BVerwG 3 B 44.96 - Buchholz 418.00 Nr. 95 S. 31 f. und vom 19. Oktober 2001 - BVerwG 1 B 24.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 Nr. 317 S. 29 m.w.N.) eine fundiertere Gewissheit in Bezug auf seine Überzeugung zu verschaffen, die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache sei auch angesichts der damaligen Verhältnisse in dem in Rede stehenden Aussiedlungsgebiet, namentlich während der Jahre 1946 bis 1952 in einem Kinderheim in der Ukraine und anschließend bis zur Selbständigkeit bei der Mutter, möglich und zumutbar gewesen, zumal das Verwaltungsgericht auf einer vergleichbaren Erkenntnisgrundlage zur gegenteiligen Überzeugung gelangt war und das Berufungsgericht die Klägerin angesichts der Beweisnot als „Zeugin in eigener Sache“ hätte befragen und anhören müssen (vgl. insbesondere Beschluss vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B 392.01 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259 zum Asylvorbringen).

4 Dem Oberverwaltungsgericht musste es sich auch aufdrängen, der von der Klägerbevollmächtigten im Schriftsatz vom 27. Oktober 2006 ausgesprochenen Anregung (gerichtliche Anhörung der Klägerin) nachzugehen. Das Oberverwaltungsgericht hat nämlich - die Entscheidung je selbständig tragend - angenommen, die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache sei im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 4 BVFG weder im Kinderheim von 1946 bis 1952 (vgl. UA S. 16 - 19) noch in der Zeit danach bis zur Selbständigkeit der Klägerin mit Vollendung des 16. Lebens-jahres (vgl. UA S. 16 und S. 19 f.) unmöglich oder unzumutbar gewesen. Beide Annahmen beruhen maßgeblich auch auf einer Bewertung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin und ihrer Glaubwürdigkeit. Sie hätten deshalb zu Lasten der Klägerin nicht ohne ihre persönliche Anhörung oder Vernehmung als Beteiligte getroffen werden dürfen; insoweit verletzt das Berufungsurteil die gerichtliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) und den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 VwGO).

5 Auf die weiter erhobenen Rügen kommt es danach nicht an, auch nicht auf die Grundsatzrügen, zumal deren Entscheidungserheblichkeit ohne Ausräumung des Verfahrensfehlers nicht beurteilt werden kann.

6 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.