Verfahrensinformation

Die Kläger begehren als Rechtsnachfolger die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die auf besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgte entschädigungslose Enteignung eines über 1 200 ha großen Gutes sowie eines Brennereibetriebes. Der Rechtsvorgänger der Kläger, Vorsitzender des Pommerschen Landbundes und bis 1932 Abgeordneter der Deutsch-Nationalen-Volkspartei (DNVP) im Preußischen Landtag, wurde nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Anfang Februar 1933 zum Staatssekretär in dem Hugenberg übertragenen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft berufen. Unter dem Minister Darré, der Hugenberg Ende Juni 1933 ablöste, wurde er Ende September 1933 zunächst in den einstweiligen und im Januar 1934 in den dauernden Ruhestand versetzt. Im Zusammenhang mit dem sog. "Röhm-Putsch" wurde er Ende Juni 1934 auf seinem Gut von der SS gesucht, konnte jedoch fliehen. Im Juni 1939 wurde er in einem Verzeichnis des Reichssicherheitshauptamts im Unterverzeichnis „Rechtsopposition und Reaktion“ aufgeführt. Im Dezember 1943 verurteilte ihn das Landgericht Greifswald zu einer Gefängnisstrafe von 8 Monaten, weil er zwei sowjetischen Kriegsgefangenen ein christliches Begräbnis bereitet hatte. Das Reichsgericht hob die Entscheidung im Mai 1944 auf und verwies das Verfahren zurück. Zu einer Neuverhandlung kam es nicht mehr, weil der Rechtsvorgänger der Kläger am 21. Juli 1944 verhaftet wurde und sich bis April 1945 in Gestapo-Haft befand. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Februar 1963 die Abweisung einer Klage auf Wiedergutmachung wegen nationalsozialistischen Unrechts durch die rechtswidrige Entlassung als Angehöriger des öffentlichen Dienstes bestätigt (BVerwGE 15, 326) und dabei einen Anspruch auf Wiedergutmachung wegen der Förderung des nationalsozialistischen Systems bei der Machtergreifung ausgeschlossen.


Das beklagte Land lehnte im Oktober 2006 den Antrag der Kläger auf Gewährung einer Entschädigung nach dem Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) mit der Begründung ab, ihr Rechtsvorgänger habe durch seine Tätigkeit als Staatssekretär dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet und damit den Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG erfüllt. Das Verwaltungsgericht Greifswald hat die Klage im April 2009 abgewiesen und die Revision zur Klärung der Frage zugelassen, ob es für die Bejahung des Ausschlussgrundes des erheblichen Vorschubleistens im Falle der Mitwirkung in der Reichsregierung unter Hitler der Ermittlung konkreter Förderungshandlungen bedarf.


Pressemitteilung Nr. 86/2010 vom 29.09.2010

Entschädigung für die Erben eines Staatssekretärs im ersten Kabinett Hitler?

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute über die Klage der Erben eines Staatssekretärs im ersten Kabinett Hitler nach dem Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) entschieden und das Verfahren an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.


Die Kläger begehren die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die auf besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgte entschädigungslose Enteignung eines über 1 200 ha großen Gutes sowie eines Brennereibetriebes.


Der Rechtsvorgänger der Kläger war Vorsitzender des Pommerschen Landbundes und bis 1932 Abgeordneter der Deutsch-Nationalen-Volkspartei (DNVP) im Preußischen Landtag. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde er Anfang Februar 1933 zum Staatssekretär in dem Hugenberg übertragenen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft berufen. Unter dem Minister Darré, der Hugenberg Ende Juni 1933 ablöste, wurde er Ende September 1933 zunächst in den einstweiligen und im Januar 1934 in den dauernden Ruhestand versetzt. Im Zusammenhang mit dem sog. "Röhm-Putsch" wurde er Ende Juni 1934 auf seinem Gut von der SS gesucht, konnte jedoch fliehen. Im Juni 1939 wurde er in einem Verzeichnis des Reichssicherheitshauptamts im Unterverzeichnis "Rechtsopposition und Reaktion" aufgeführt. Im Dezember 1943 verurteilte ihn das Landgericht Greifswald zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten, weil er zwei sowjetischen Kriegsgefangenen ein christliches Begräbnis bereitet hatte. Das Reichsgericht hob die Entscheidung im Mai 1944 auf und verwies das Verfahren zurück. Zu einer Neuverhandlung kam es nicht mehr, weil der Rechtsvorgänger der Kläger am 21. Juli 1944 verhaftet wurde und sich bis April 1945 in Gestapo-Haft befand. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Februar 1963 die Abweisung einer Klage auf Wiedergutmachung wegen nationalsozialistischen Unrechts durch die rechtswidrige Entlassung als Angehöriger des öffentlichen Dienstes bestätigt (BVerwGE 15, 326) und dabei einen Anspruch auf Wiedergutmachung wegen der Förderung des nationalsozialistischen Systems bei der Machtergreifung ausgeschlossen.


Das beklagte Land Mecklenburg-Vorpommern lehnte im Oktober 2006 den Antrag der Kläger auf Gewährung einer Entschädigung mit der Begründung ab, ihr Rechtsvorgänger habe durch seine Tätigkeit als Staatssekretär dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet und damit den Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG [1] erfüllt. Das Verwaltungsgericht Greifswald hat sich dieser Ansicht angeschlossen und die Klage im April 2009 abgewiesen.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichts aufgehoben und das Verfahren zurückverwiesen. Es hat beanstandet, dass das Verwaltungsgericht auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage entschieden und die genaue Rolle des Rechtsvorgängers der Kläger sowie sein konkretes Verhalten in der NS-Zeit nicht ausreichend betrachtet hat. Das Verwaltungsgericht Greifswald muss sich nunmehr erneut umfassend mit der Klage befassen und dabei das gesamte Verhalten des Rechtsvorgängers der Kläger vor und nach seiner Entlassung als Staatssekretär würdigen.


BVerwG 5 C 16.09 - Urteil vom 29.09.2010

Vorinstanz:

VG Greifswald, VG 2 A 2004/06 - Urteil vom 21.04.2009 -


Urteil vom 29.09.2010 -
BVerwG 5 C 16.09ECLI:DE:BVerwG:2010:290910U5C16.09.0

Urteil

BVerwG 5 C 16.09

  • VG Greifswald - 21.04.2009 - AZ: VG 2 A 2004/06

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. September 2010
durch den Vizepräsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Hund,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Stengelhofen und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Störmer und Dr. Häußler
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 21. April 2009, berichtigt durch Beschluss vom 15. Juli 2009, aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Greifswald zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Die Kläger begehren als Rechtsnachfolger des am 10. November 1971 verstorbenen Hansjoachim von R. die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die auf besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgte entschädigungslose Enteignung eines ca. 1 200 ha großen Gutes sowie eines Brennereibetriebes.

2 Hansjoachim von R. wurde am 1. Oktober 1888 bei D./Vorpommern geboren. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg studierte er Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre und war von 1919 bis 1921 im Preußischen Innenministerium tätig; danach übernahm er die Bewirtschaftung des seiner Familie gehörenden Grundbesitzes. Er wurde Vorsitzender des Pommerschen Landbundes und gehörte dem Vorstand des Reichslandbundes an. Als Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) war er von 1924 bis 1932 Mitglied des Preußischen Landtages.

3 Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde Hansjoachim von R. am 3. Februar 1933 zum Staatssekretär in dem Alfred Hugenberg übertragenen Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft ernannt. Unter dem Minister Richard Walther Darré, der Hugenberg Ende Juni 1933 abgelöst hatte, wurde von R. am 23. September 1933 zunächst in den einstweiligen und im Januar 1934 in den dauernden Ruhestand versetzt.

4 Am 30. Juni 1934, dem Tag des sog. „Röhm-Putsches“, wurde von R. durch ein SS-Kommando gesucht, konnte jedoch fliehen. Im Jahr 1938 fertigte der parteiinterne Nachrichtendienst „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ wegen des Zusammenschlusses „Reaktionärer Großgrundbesitzer“ einen ausführlichen Bericht über ihn an. Im Juni 1939 wurde er in einem Verzeichnis des Reichssicherheitshauptamtes im Unterverzeichnis „Rechtsopposition und Reaktion“ aufgeführt. Im Dezember 1943 verurteilte ihn das Landgericht G. wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten, weil er an einem christlichen Begräbnis für zwei gefangene sowjetische Soldaten, die in seinem Betrieb eingesetzt waren, teilgenommen hatte. Das Reichsgericht hob die Entscheidung im Mai 1944 auf und verwies das Verfahren zur erneuten Verhandlung an ein anderes Landgericht zurück. Zu einer weiteren Verhandlung kam es nicht mehr, weil von R. am 21. Juli 1944 verhaftet wurde und sich bis April 1945 in Gestapo-Haft befand.

5 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von R. als Großgrundbesitzer von der sowjetischen Besatzungsmacht enteignet und zog in die Bundesrepublik Deutschland. Ein 1953 gestellter Antrag von R. auf Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts wegen rechtswidriger Entlassung aus dem öffentlichen Dienst hatte keinen Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Urteil vom 28. Februar 1963 (BVerwGE 15, 326 ff.) die Abweisung der hiergegen gerichteten Klage von R., weil dieser im Sinne des Ausschlusstatbestandes des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes (BWGöD) den Nationalsozialismus gefördert habe.

6 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands beantragten die Kläger als Erben von R. eine Entschädigung für den Verlust des durch die Sowjets enteigneten Familienbesitzes. Mit Bescheid vom 5. Oktober 2006 lehnte der Beklagte den Antrag der Kläger auf Gewährung einer Entschädigung nach dem Ausgleichsleistungsgesetz (AusglLeistG) mit der Begründung ab, von R. habe dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet und damit den Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG erfüllt. Als Staatssekretär sei er für das nationalsozialistische System auf höchster Regierungsebene tätig und damit außerordentlich nützlich gewesen. Von R. habe als bekannter Politiker, Landwirtschaftsführer und freier Grundbesitzer durch seinen Entschluss, Staatssekretär im ersten Kabinett Hitler zu werden, den Nationalsozialismus gefördert. Dass er nach seiner Versetzung in den dauernden Ruhestand politische Verfolgung durch das NS-Regime erlitten habe, sei unbeachtlich, weil ein einmal begangenes erhebliches Vorschubleisten durch spätere Abkehr oder Wiedergutmachungsbemühungen nicht rückgängig gemacht werden könne.

7 Die hiergegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Ein erhebliches Vorschubleisten ergebe sich in objektiver Hinsicht bereits aus seiner Stellung und Mitwirkung als Staatssekretär in der ersten Regierung Hitler. In der Öffentlichkeit sei dadurch der Eindruck erweckt worden, Hitler und die NSDAP seien vertrauenswürdig. Diese Gründe hätten das Bundesverwaltungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom Februar 1963 veranlasst, ein Fördern des Nationalsozialismus durch von R. zu bejahen. In der Zeit seiner Regierungsbeteiligung seien das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 (RGBl I S. 141) und andere für die Errichtung des nationalsozialistischen Systems wesentliche Rechtsakte erlassen worden. Als Mitglied der Regierung Hitler habe er diese mit zu vertreten. Auch in subjektiver Hinsicht liege ein erhebliches Vorschubleisten vor. Zwar könne davon ausgegangen werden, dass er in einem Gegensatz zur NSDAP gestanden habe und ebenso wie Hugenberg deren Alleinherrschaft habe verhindern wollen. Als erfahrener Politiker habe er die Absichten der Nationalsozialisten und die Erheblichkeit seines Förderbeitrages jedoch erkennen können.

8 Mit ihrer Revision machen die Kläger Rechts- und Verfahrensfehler geltend. Sie rügen unter anderem eine Verletzung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG im Hinblick darauf, dass das Verwaltungsgericht aus der Zugehörigkeit von R. zum Kreis der Staatssekretäre eine hinreichende Indizwirkung für ein erhebliches Vorschubleisten abgeleitet habe. Dies widerspreche den Grundsätzen in der Entscheidung des Senats vom 18. September 2009 - BVerwG 5 C 1.09 - (BVerwGE 135, 1 ff.). Von R. sei der einzige Staatssekretär mit kürzerer Amtszeit gewesen, der in seinem Ressort dem Machtanspruch der Nationalsozialisten nachhaltig entgegengetreten, als Gegner des NS-Systems entlassen und bis 1945 politisch verfolgt worden sei. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Mitwirkung von R. an den sog. Ermächtigungsgesetzen unterstellt. Er sei als Staatssekretär nicht Mitglied der Reichsregierung gewesen und habe an der Beschlussfassung über diese Gesetze im Reichskabinett nicht mitgewirkt. Zumindest werde bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung seines Verhaltens eine etwaige funktionsbedingte Indizwirkung durch seine konkrete Amtsführung und die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten entkräftet.

9 Der Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.

II

10 Die Revision der Kläger, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg. Das angefochtene Urteil steht mit Bundesrecht nicht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es beruht auf einer unrichtigen Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG. Weil die für eine abschließende Entscheidung erforderlichen Tatsachen nicht hinreichend festgestellt sind, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Damit bedarf es keiner Entscheidung über die von der Revision vorgebrachten Verfahrensrügen.

11 1. Ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen ist nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG ausgeschlossen, wenn der Betreffende dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet hat. Wie das Bundesverwaltungsgericht im Fall des DNVP-Vorsitzenden und Reichsministers Alfred Hugenberg entschieden hat, setzt ein erhebliches Vorschubleisten nicht voraus, dass der Betreffende NSDAP-Mitglied gewesen ist. Ein erhebliches Vorschubleisten ist auch bereits in der Phase der Errichtung des nationalsozialistischen Systems möglich gewesen und nicht erst nach dessen Etablierung (Urteil vom 17. März 2005 - BVerwG 3 C 20.04 - BVerwGE 123, 142 <144>). In objektiver Hinsicht greift der Anspruchsausschluss des erheblichen Vorschubleistens ein, wenn nicht nur gelegentlich oder beiläufig, sondern mit einer gewissen Stetigkeit Handlungen vorgenommen wurden, die dazu geeignet waren, die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des nationalsozialistischen Systems zu verbessern oder Widerstand gegen dieses System zu unterdrücken, und dies auch zum Ergebnis hatten. Der Nutzen, den das Regime aus dem Handeln des Betroffenen gezogen hat, darf nicht nur ganz unbedeutend gewesen sein (stRspr, zuletzt Urteile vom 18. September 2009 - BVerwG 5 C 1.09 - BVerwGE 135, 1 <3> und vom 30. Juni 2010 - BVerwG 5 C 9.09 - juris Rn. 9). In subjektiver Hinsicht ist ein wissentliches und willentliches Handeln zugunsten des nationalsozialistischen Systems erforderlich, aber auch ausreichend. Unschädlich ist es, wenn der Betreffende mit seinem das nationalsozialistische System erheblich begünstigenden Handeln zugleich eigene andere Ziele verfolgte. Denn wer eigene politische Ziele verfolgt, kann damit zugleich auch wissentlich und willentlich die politischen Ziele eines anderen fördern (stRspr, zuletzt Urteil vom 30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 10). Schließlich ist bei der Prüfung der Erheblichkeit des Vorschubleistens auch ein Verhalten zu berücksichtigen, das darauf gerichtet war, die Ziele des nationalsozialistischen Unrechtssytems nachhaltig zu untergraben oder einen sonstigen gewichtigen Schaden für das System herbeizuführen. Insofern ist eine Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung des Verhaltens in der NS-Zeit erforderlich (ausführlich: Urteil vom 30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 11).

12 2. Das angegriffene Urteil entspricht diesen teilweise erst nach seinem Erlass entwickelten Maßstäben nicht in vollem Umfang. Zum einen reichen die verwaltungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen jedenfalls derzeit nicht für die Annahme aus, dass von R. als Staatssekretär das nationalsozialistische System in oben beschriebener Weise wesentlich und nachhaltig unterstützt hat (2.1). Zum anderen fehlt die für eine Gesamtbetrachtung erforderliche Befassung mit der von der Klägerseite vorgetragenen politischen Distanzierung und persönlichen Verfolgung von R. durch das NS-Regime (2.2).

13 2.1 Eine Verletzung des § 1 Abs. 4 AusglLeistG liegt darin, dass die vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen für eine Bewertung des Verhaltens von R. als „erhebliches Vorschubleisten“ nicht ausreichen. Für eine solche Bewertung genügen weder die festgestellten Tatsachen zu dessen konkreten Handeln und Wirken noch ist ein Rückgriff auf eine objektive Indizwirkung möglich.

14 a) Das Verwaltungsgericht hat die näheren Umstände, die zur Berufung von R. zum Staatssekretär im ersten Kabinett Hitler geführt haben, nicht aufgeklärt. Es hat sich insbesondere nicht mit der Frage beschäftigt, ob sich von R. öffentlich oder innerhalb der DNVP für die Koalition mit der NSDAP eingesetzt hat. Es ist lediglich davon ausgegangen, dass von R. bereits durch den Eintritt in das Kabinett Hitler objektiv betrachtet an der Regierungsbildung Hitlers beteiligt gewesen ist und mit seinem Renommee zur Akzeptanz der neuen Regierung in der Bevölkerung beigetragen hat. Dass in diesem Verhalten von R. bei korrekter tatrichterlicher Würdigung aller Umstände eine Förderung des NS-Regimes gesehen werden kann, hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im Urteil vom 28. Februar 1963 - BVerwG 8 C 81.61 - (BVerwGE 15, 326 <328 f.>) ausgeführt. Das Verwaltungsgericht hat sich allerdings nicht mit den historischen Einwänden der Klägerseite gegen die der damaligen Gerichtsentscheidung zu Grunde liegenden Tatsachenfeststellungen befasst, obwohl die Kläger ihren Vortrag durch Vorlage eines historischen Parteigutachtens untermauert haben. Das Verwaltungsgericht hat auch nicht selbstständig tragend ausgeführt, dass und weshalb in der Übernahme der Stellung eines beamteten Staatssekretärs im Jahr 1933 ein über ein einfaches Fördern hinausgehendes, gewichtiges und nachhaltiges Vorschubleisten im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG liegt. Über die Tätigkeit eines beamteten Staatssekretärs in späteren Kabinetten oder in anderen Ressorts ist hier nicht zu befinden.

15 Die Annahme des erheblichen Vorschubleistens ist auf der vorhandenen Tatsachengrundlage auch nicht schon wegen seiner dienstlichen Tätigkeit als Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft möglich. Eine historische Überprüfung seiner konkreten amtlichen Tätigkeit ist - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - nicht deswegen entbehrlich, weil von R. als Staatssekretär zwangsläufig an den während seiner Amtszeit vom ersten Kabinett Hitler verabschiedeten Machtergreifungsakten - wie dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, den Gleichschaltungsgesetzen vom 31. März und vom 7. April 1933 sowie dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 - mitgewirkt habe. Denn von R. war anders als Hugenberg nicht als Reichsminister nach Art. 52 WRV Mitglied der Reichsregierung. Als Staatssekretär war von R. oberster Beamter des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Er durfte nach § 30 der Geschäftsordnung der Reichsregierung (vom 3. Mai 1924 <RMBl S. 173> i.d.F. der Änderung vom 12. April 1926 <RMBl S. 119>) nur im Vertretungsfall - bei Verhinderung des Reichsministers - stimmberechtigt an den Sitzungen der Reichsregierung teilnehmen. Diese Regelung schloss die beratende Hinzuziehung der Staatssekretäre zu den übrigen Kabinettssitzungen nicht aus, begründete aber keine Vermutung für deren regelmäßige Teilnahme an allen Sitzungen der Reichsregierung; dass die Regierung Hitler im Jahr 1933 eine abweichende Praxis hierzu entwickelt hätte, ist nicht vorgetragen oder festgestellt.

16 Daher können die Gründe, die im Fall Hugenberg für ein erhebliches Vorschubleisten angeführt worden sind, nicht unbesehen auf den Fall von R. übertragen werden. Dass jeder Staatssekretär - und damit auch der Staatssekretär im Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft - maßgeblich an der Vorbereitung der Ermächtigungsgesetze beteiligt gewesen ist, ergibt sich ferner nicht aus den vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen. Vielmehr bedarf es einer konkreten historischen Untersuchung (etwa anhand der Kabinettsprotokolle, der einschlägigen Presseberichte und der ansonsten zur Verfügung stehenden Materialien), ob von R. bei der Beschlussfassung über die genannten Gesetze teilgenommen, beratend oder stellvertretend mitgewirkt oder durch Rechtfertigung der genannten Gesetze nach außen die sog. Machtergreifung erheblich unterstützt hat.

17 b) Eine nähere Überprüfung des dienstlichen Verhaltens von R. ist auch nicht deswegen entbehrlich, weil sich bereits aus seiner Stellung als Staatssekretär im ersten Kabinett Hitler eine tatsächliche Vermutung (objektive Indizwirkung) für ein erhebliches Vorschubleisten ergäbe. Das Bundesverwaltungsgericht hat bislang eine objektive Indizwirkung bei einer hauptamtlichen Tätigkeit in der Gestapo (Urteil vom 26. Februar 2009 - BVerwG 5 C 4.08 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 16 Rn. 16), der SS (Urteil vom 14. Mai 2009 - BVerwG 5 C 15.08 - Buchholz 428.4 § 1 AusglLeistG Nr. 18 Rn. 18 ff.) und bei der Wahrnehmung einer herausgehobenen Funktion in der NSDAP angenommen, wenn die Funktion über einen längeren Zeitraum hinweg und im Sinne der Partei beanstandungsfrei ausgeübt worden ist (Urteil vom 19. Oktober 2006 - BVerwG 3 C 39.05 - BVerwGE 127, 56 <61>). Denn dies lässt den Schluss zu, der Betreffende habe im Rahmen seiner amts- und funktionsgerechten Tätigkeit in einer für das NS-System tragenden Organisation auch Handlungen begangen, die nach Art und Umfang dem nationalsozialistischem System erheblichen Vorschub geleistet haben.

18 Ob sich hingegen aus einer länger andauernden Tätigkeit als Staatssekretär während des nationalsozialistischen Regimes angesichts des besonderen Näheverhältnisses zu den politischen Entscheidungsträgern eine objektive Indizwirkung herleiten lässt, bedarf im vorliegenden Fall keiner Vertiefung. Denn von R. wurde unbestritten bereits nach sieben Monaten wegen politischer Differenzen vom Dienst suspendiert. Er war auch nicht Mitglied der NSDAP, sondern wurde auf Wunsch des DNVP-Vorsitzenden Hugenberg zum Staatssekretär berufen. Sein Fall ist daher so atypisch gelagert, dass ein Rückgriff auf die bei längerer Tätigkeit als Staatssekretär in der NS-Zeit jedenfalls naheliegende Vermutung einer erheblichen Verstrickung in das NS-System kaum möglich sein dürfte.

19 2.2 Auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, ein etwaiges (späteres) systemschädigendes Verhalten des Betreffenden sei grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, verletzt Bundesrecht. Dies widerspricht dem Grundanliegen des § 1 Abs. 4 AusglLeistG, der nur den Ausschluss der Hauptverantwortlichen des NS-Unrechtssystems bezweckt und daher eine Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung des Verhaltens in der NS-Zeit erforderlich macht (vgl. Urteile vom 18. September 2009 a.a.O. <4 ff.> und vom 30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 11). Auf diesem Fehler beruht das Urteil auch, weil es den Vortrag der Kläger zu einem systemschädlichen Verhalten von R. in der NS-Zeit nicht geprüft und keine Gesamtbewertung vorgenommen hat.

20 3. Der Senat kann auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht selbst entscheiden, ob sich das Urteil des Verwaltungsgerichts im Ergebnis als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die bislang vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen erlauben keine abschließende - zudem in erster Linie dem Tatrichter vorbehaltene - Beurteilung, ob von R. bei einer Gesamtwürdigung seines Verhaltens in seiner Person den Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG insgesamt erfüllt hat oder nicht.

21 Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen einer umfassenden Prüfung zunächst das konkrete Verhalten von R. im Vorfeld des 30. Januar 1933 dahingehend würdigen muss, ob es eine gewichtige Förderung des nationalsozialistischen Systems darstellt. Es muss die politischen Begleitumstände der Ernennung von R. zum Staatssekretär am 3. Februar 1933 ermitteln, die von seinem Eintritt in das Kabinett Hitler ausgehenden Wirkungen auf die Öffentlichkeit und ihren etwaigen Beitrag zur Etablierung und Stützung des nationalsozialistischen Systems berücksichtigen und auch der Frage nachgehen, ob und wie von R. sich im anschließenden Reichstagswahlkampf für die Fortführung der Reichsregierung unter Hitler stark gemacht hat. Dabei wird es sich auch mit dem Vorbringen der Kläger auseinanderzusetzen haben, dass die im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Februar 1963 (BVerwG 8 C 81.61 ) revisionsgerichtlich nicht beanstandeten tatrichterlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12. Januar 1961 - I A 1767/56) auf Grund neuerer zeitgeschichtlicher Erkenntnisse nicht mehr haltbar seien. Da in diesem Urteil zahlreiche Bezugnahmen auf vorgelegte Urkunden und abgegebene Erklärungen von Zeitzeugen enthalten sind, wird auch die Möglichkeit der Beiziehung dieser Akte zu prüfen sein.

22 Ferner hat das Verwaltungsgericht die konkrete Amtsausübung von R. während seiner Tätigkeit als Staatssekretär zu ermitteln und zu würdigen. Dies gilt insbesondere für die bisher nur unterstellte Mitwirkung beim Erlass der sog. Ermächtigungsgesetze. Dabei ist auch der Frage nachzugehen, ob er gegenüber der Öffentlichkeit die sog. Machtergreifung gerechtfertigt hat und welches Bild von R. durch die (nationalsozialistischen) Medien gezeichnet worden ist. Im Rahmen der Tatsachenermittlung wird das Verwaltungsgericht nicht nur das von der Klägerseite vorgelegte historische Parteigutachten auswerten, sondern angesichts der Quellenlage auch prüfen müssen, ob es ggf. selbst ein Sachverständigengutachten einholt.

23 In rechtlicher Hinsicht ist zudem zu beachten, dass die o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 1963 den Ausschlusstatbestand des § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BWGöD („Fördern des Nationalsozialismus“) zum Gegenstand hat, der sich von dem hier maßgeblichen Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG insoweit unterscheidet, als er eine niedrigere Intensität und Wirkung der Unterstützung des nationalsozialistischen Systems verlangt als ein erhebliches Vorschubleisten im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG (vgl. Urteil vom 17. März 2005 a.a.O. <145 f.>).

24 Sollte sich das Verwaltungsgericht davon überzeugen können, dass systemfördernde Handlungen von R. vorliegen, die - für sich gesehen oder in ihrer Gesamtheit betrachtet - geeignet sind, ein erhebliches Vorschubleisten im Sinne des § 1 Abs. 4 AusglLeistG zu bejahen, so müsste es weiterhin ermitteln, ob er sich in einer Weise systemschädigend verhalten hat, dass bei einer Gesamtwürdigung der Ausschlussgrund des § 1 Abs. 4 AusglLeistG nicht eingreift. Wie der Senat in der Entscheidung vom 18. September 2009 ausgeführt hat, wird sich jemand, der an bedeutsamer Stelle zur Etablierung und Stützung des nationalsozialistischen Systems beigetragen hat, hiervon allerdings - wenn überhaupt - nur durch nachweislich besonders gewichtige systemschädigende Handlungen entlasten können. Eine bloße innere Reserviertheit oder Abneigung gegenüber dem System, die sich nicht in nennenswerten Handlungen nach außen manifestiert hat, kann insoweit ebenso wenig ins Gewicht fallen wie eine im Zeitverlauf lediglich nachlassende Unterstützung oder eine Abwendung von den Systemzielen in späteren Phasen des NS-Regimes. Demgegenüber ist es für die Gewichtung der systemschädlichen Handlungen aber etwa auch von Bedeutung, ob und ggf. in welcher Weise sich die betreffende Person durch ihr auf die Schädigung des Systems gerichtetes Verhalten konkreten Gefahren nicht nur für ihre berufliche Stellung ausgesetzt hat. Dabei sind Handlungen, die darauf gerichtet waren, die Ziele des nationalsozialistischen Unrechtssystems nachhaltig zu untergraben oder einen sonstigen gewichtigen Schaden für das System herbeizuführen, auch dann bedeutsam, wenn der beabsichtigte Schadenserfolg nicht oder nicht kausal durch das Verhalten der betreffenden Person eingetreten ist (Urteile vom 18. September 2009 a.a.O. <7> und vom 30. Juni 2010 a.a.O. Rn. 19).

25 Um eine abschließende Gesamtbetrachtung und -würdigung vornehmen zu können, wird das Verwaltungsgericht danach ggf. auch zu untersuchen haben, ob und in welchem Maße von R. tatsächlich während seiner Amtszeit dem nationalsozialistischen System entgegengetreten ist, etwa durch eine Weigerung, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf die Beamten des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft anzuwenden oder durch eine Blockierung des Reichserbhofgesetzes und anderer spezifisch nationalsozialistischer Ziele. Auch das Verhalten von R. nach seiner Entlassung aus dem Amt des Staatssekretärs ist daraufhin zu überprüfen, ob und ggf. in welchem Umfang er damit zur Schädigung des NS-Systems beigetragen hat.