Beschluss vom 29.06.2010 -
BVerwG 10 B 33.09ECLI:DE:BVerwG:2010:290610B10B33.09.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 29.06.2010 - 10 B 33.09 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:290610B10B33.09.0]

Beschluss

BVerwG 10 B 33.09

  • VGH Baden-Württemberg - 16.06.2009 - AZ: VGH A 11 S 476/09

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juni 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. Juni 2009 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und auf den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind zum Teil schon nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt und liegen im Übrigen auch nicht vor.

2 1. Die Beschwerde wendet sich dagegen, dass das Berufungsgericht im Falle des Klägers das Vorliegen eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistans wegen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG verneint hat. Sie trägt vor, das Berufungsgericht habe angenommen, dass der Kläger wegen seiner Ersparnisse in Höhe von 5 000 bis 6 000 € in Kabul hinsichtlich seiner Ernährung und Versorgung keiner extremen Gefahrensituation ausgeliefert wäre. Angesichts des Umstandes, dass nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Lebenshaltungskosten für ein Jahr Aufenthalt in Kabul ohne Arbeit im Jahre 2007 etwa 5 000 € betrügen, könne dem Urteil folgender Rechtssatz entnommen werden:
„Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG besteht dann nicht, wenn sichergestellt ist, dass der abzuschiebende Ausländer wenigstens innerhalb eines Zeitraums von bis zu einem Jahr im Zielstaat nicht schwersten Gefahren für Leib und Leben ausgeliefert sein wird.“

3 Des Weiteren könne dem Urteil der Rechtssatz entnommen werden:
„Ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG besteht dann nicht, wenn der Ausländer aufgrund eigener Ersparnisse in der Lage ist, sich bis zu einem Jahr vor dem Hungertod oder schwersten gesundheitlichen Gefahren wegen mangelnder Versorgung mit Wohnung, Nahrung, Kleidung und ärztlichen Leistungen im Zielstaat zu bewahren.“

4 Darüber hinaus habe das Berufungsgericht festgestellt, dass insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in Afghanistan eine äußerst ungünstige Sicherheitslage bestehe. Sie träfen auf übersteigerte Erwartungen hinsichtlich ihrer finanziellen Möglichkeiten und würden nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Dies setze sie in erhöhtem Maße kriminellen Angriffen und der Gefahr aus, ihrer finanziellen Mittel beraubt zu werden. Damit könne dem Berufungsurteil folgender Rechtssatz entnommen werden:
„Ein Ausländer, der in ein Land abgeschoben werden soll, in dem ihm wegen fehlender Erwerbsmöglichkeiten oder fehlender Unterstützung von Verwandten der Hungertod droht, kann sich nicht auf ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG berufen, wenn seine Ersparnisse prinzipiell ausreichen, seinen Lebensunterhalt von bis zu einem Jahr sicherzustellen, unabhängig davon, ob er der nahen Gefahr ausgesetzt ist, dieser finanziellen Mittel durch kriminelle Aktionen beraubt zu werden.“

5 Die genannten Rechtsfragen hätten grundsätzliche Bedeutung und stellten sich für eine Vielzahl von Flüchtlingen aus Afghanistan, die über eigene Ersparnisse verfügten und abgeschoben werden sollten. Eine Entscheidung des Revisionsgerichts könne zu einer genaueren Klärung führen, wie eng der unmittelbare zeitliche Zusammenhang zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutsverletzung sein muss, damit sich der Ausländer auf ein Abschiebehindernis berufen könne.

6 Mit diesem Vorbringen ist eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, die in einem Revisionsverfahren verallgemeinerungsfähig beantwortet werden könnte, nicht aufgezeigt. Die Beschwerde versucht zwar, aus den Feststellungen des Berufungsgerichts über die allgemeine Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan sowie über die persönlichen Lebensumstände des Klägers abstrakte Rechtssätze herzuleiten, sie verkennt aber, dass die Frage, ob dem Kläger eine extreme Gefahr droht, das heißt ob er alsbald nach seiner Rückkehr dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt würde, vom Tatrichter aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu beantworten ist und sich damit einer weiteren abstrakten rechtlichen Klärung in einem Revisionsverfahren in der Regel entzieht (vgl. etwa Beschluss vom 16. September 2004 - BVerwG 1 B 132.04 - Buchholz 402.240 zu § 53 AuslG Nr. 80 m.w.N.). Dies gilt insbesondere auch für den von der Beschwerde angesprochenen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Abschiebung und der drohenden Rechtsgutsverletzung, der nicht absolut und losgelöst von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles festgelegt werden kann, sondern aufgrund einer wertenden Betrachtungsweise zu ermitteln ist.

7 2. Auch die von der Beschwerde erhobene Gehörsrüge greift nicht durch. Die Beschwerde macht insoweit geltend, das Berufungsgericht habe wesentlichen Vortrag des Klägers übergangen. Dieser habe in der Berufungsbegründung ausgeführt, dass er als Rückkehrer aus einem westlichen Land in besonderer Weise Überfällen und Erpressungen ausgesetzt wäre, weil die Vorstellung bestehe, dass diese Menschen über finanzielle Mittel verfügten, die man ihnen abnehmen könne. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage, diese Personen zu schützen. Die Berücksichtigung dieser Umstände, die dem Berufungsgericht auch aus einem anderen, am gleichen Tage von ihm entschiedenen Verfahren geläufig gewesen seien, hätten im Falle des Klägers zur Zubilligung von Abschiebungsschutz führen müssen. Denn danach stehe mit hoher Wahrscheinlichkeit fest, dass er seine ersparten Mittel im Falle einer Abschiebung nach Kabul schon innerhalb kurzer Zeit verlieren würde und damit dem sicheren Hungertod ausgeliefert wäre.

8 Dass das Berufungsgericht den fraglichen Vortrag des Klägers nicht zur Kenntnis genommen und erwogen und damit dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat, ist mit diesem Vorbringen weder dargetan noch sonst ersichtlich. Das Berufungsgericht hat sich in den Entscheidungsgründen ausdrücklich auch mit der Sicherheitslage in Kabul befasst und unter anderem ausgeführt, dass nicht nur die Taliban, sondern auch kriminelle Banden das Land unsicher machten. Zudem habe sich zwischenzeitlich in Afghanistan eine Art „Entführungsindustrie“ entwickelt, die jeden treffen könne. Auch im Raum Kabul gelte die Sicherheitslage als fragil. Mit Einschränkungen bezüglich einiger Distrikte werde sie jedoch im Vergleich zu anderen Regionen als zufriedenstellend eingestuft; sie habe sich seit 2008 auch nicht verschlechtert. Ende August 2008 hätten die afghanischen Regierungsbehörden von ISAF formell die Sicherheitsverantwortung für die Stadt Kabul übernommen, wodurch die Lage nicht unsicherer geworden sei. Es könne deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass jeder nach Kabul zurückkehrende Afghane dort in berechtigter Weise Sorge haben müsste, Opfer eines Übergriffs oder Anschlags zu werden oder in sonstiger Weise von rivalisierenden ethnischen, religiösen oder sonst motivierten Gruppen oder Banden in seinem Leben oder seiner Unversehrtheit geschädigt zu werden (UA S. 13, 14). Aus diesen Ausführungen ergibt sich, dass das Berufungsgericht auch die vom Kläger vorgetragene Situation zurückkehrender Asylbewerber im Hinblick auf die Gefahr von Überfällen und Entführungen berücksichtigt hat, ihre Wahrscheinlichkeit aber für den Raum Kabul nicht als so hoch angesehen hat, dass sie die Annahme einer extremen Gefahr im Sinne der Rechtsprechung zur verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG rechtfertigten. Die Beschwerde wendet sich mit ihrer Gehörsrüge daher in Wahrheit gegen diese Würdigung der Erkenntnislage durch das Berufungsgericht, ohne damit einen Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO aufzuzeigen.

9 Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

10 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 1 RVG.