Beschluss vom 28.06.2007 -
BVerwG 8 B 21.07ECLI:DE:BVerwG:2007:280607B8B21.07.0

Beschluss

BVerwG 8 B 21.07

  • VG Berlin - 04.04.2006 - AZ: VG 29 A 308.00

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juni 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Postier und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser
beschlossen:

  1. Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. April 2006 gewährt.
  2. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. April 2006 wird aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 62 848 € festgesetzt.

Gründe

1 1. Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war zu gewähren. Die Klägerin hat gemäß § 60 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 VwGO glaubhaft gemacht, ohne Verschulden verhindert gewesen zu sein, die einmonatige Frist nach § 133 Abs. 2 VwGO zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde nach Zustellung des Urteils einzuhalten.

2 Die Frist gemäß § 133 Abs. 2 VwGO begann im vorliegenden Fall nicht mit der Zustellung des Urteils an Rechtsanwalt N. zu laufen. Diesem hatte die Klägerin das Mandat entzogen. Das Gericht war hierüber vor Erlass des Urteils von der Klägerin informiert worden. Gemäß § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 189 ZPO wurde der Lauf der Frist erst zu dem Zeitpunkt in Gang gesetzt, zu dem die Klägerin das von Rechtsanwalt N. mit Schreiben vom 5. Mai 2006 zugesandte Urteil bekommen hat. Innerhalb der einmonatigen Frist hat die Klägerin - offensichtlich im Rahmen der von der Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen beantragten Kostenfestsetzung - mit Schreiben vom 11. Mai 2006, Eingang bei Gericht am 16. Mai 2006, mit dem Hinweis an das Gericht reagiert, dass sie das Erbe nach der Klägerin Ursula G. nicht angetreten habe. Daraufhin hat das Gericht der Vertreterin der Beigeladenen mitgeteilt, dass nach dem derzeitigen Stand nicht feststehe, ob Martina G. Beteiligte des Verfahrens sei. Wie aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 4. April 2006 ersichtlich sei, habe zu diesem Zeitpunkt nicht festgestanden, ob Martina G. Erbin nach Ursula G. sei. Insofern müsste die Kostenfestsetzung abgelehnt werden. Es werde Gelegenheit zur Rücknahme des Kostenfestsetzungsantrags vom 25. April 2006 binnen zwei Wochen gegeben. Die Bevollmächtigte der Beigeladenen hat daraufhin mit Schriftsatz vom 29. Mai 2006 ihren Kostenfestsetzungsantrag zurückgenommen. Das Schriftstück trägt den handschriftlichen Vermerk „1. Doppel an ‚Klägerin’ zur Kenntnis.“ Auf einen erneuten Kostenfestsetzungsantrag der Bevollmächtigten der Beigeladenen vom 19. Dezember 2006 wies die Klägerin mit Schreiben vom 8. Januar 2007 erneut darauf hin, dass sie das Erbe nicht angenommen und die Rechnung zu ihrer Entlastung an die Bevollmächtigte der Beigeladenen zurückgesandt habe. Mit Beschluss vom 16. Januar 2007 wurden nach dem Antrag der Bevollmächtigten der Beigeladenen „auf Grund des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. April 2006 die den Beigeladenen von der Klägerin zu erstattenden Kosten auf 2 939,80 € festgesetzt“. Der Beschluss wurde ausweislich der Zustellungsurkunde der Klägerin am 19. Januar 2007 zugestellt.

3 Vor diesem verfahrensrechtlichen Hintergrund trifft die Klägerin kein Verschulden an der versäumten Frist, weil das Verhalten des Gerichts aus ihrer Sicht die Annahme nahelegte, von ihrer Seite sei nichts weiteres veranlasst. Zumindest hätte sich von Seiten des Gerichts im Hinblick auf ein faires Verfahren innerhalb der offenen Frist der Hinweis aufgedrängt, dass die Entscheidung vom 4. April 2006 rechtskräftig werde, wenn die Klägerin nicht entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung Nichtzulassungsbeschwerde einlegte. Offensichtlich wurde vom Verwaltungsgericht die Situation ebenfalls nicht als klar und eindeutig eingeschätzt. Dies zeigt das Schreiben vom 17. Mai 2006 an die Vertreterin der Beigeladenen. In diesem Schreiben geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass nach derzeitigem Stand nicht feststehe, ob Frau Marina G. Beteiligte des Verfahrens sei. Die Anforderungen an einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden juristischen Laien würden bei dieser Sachlage überspannt (vgl. Beschluss vom 22. April 2005 - BVerwG 4 BN 12.05 - Buchholz 310 § 60 Nr. 256).

4 Die Frist gemäß § 60 Abs. 2 VwGO wurde gewahrt. Danach ist der Antrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Der Klägerin wurde der Kostenfestsetzungsbeschluss am 19. Januar 2007 zugestellt. Am 29. Januar 2007 hat sie sich rechtlich beraten lassen. Zu diesem Zeitpunkt war ihr klar geworden, dass das Verwaltungsgericht sie entgegen seinem bisherigen Verhalten als unterlegene Klagepartei angesehen hat. Die Nichtzulassungsbeschwerde ging am 12. Februar 2007 rechtzeitig beim Verwaltungsgericht ein.

5 2. Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil leidet an dem geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts aus § 86 Abs. 1 VwGO verletzt.

6 Das Verwaltungsgericht durfte seiner Entscheidung nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts die Annahme zu Grunde legen, dass die Klägerin als Erbin ihrer verstorbenen Großmutter deren Rechtsnachfolgerin und damit Berechtigte i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 VermG ist. Das Verwaltungsgericht hätte zunächst klären müssen, ob die Klägerin entsprechend ihrem Vortrag als Erbin nicht in Betracht komme. Die Klägerin hatte mehrfach schriftlich darauf hingewiesen, dass zahlreiche Erbausschlagungserklärungen vorlägen und im Testament ihrer Großmutter noch eine Nichte mit ihren Kindern bedacht sei. Das Verwaltungsgericht durfte sich angesichts dieser Sachlage nicht mit der Annahme begnügen, die Klägerin habe die Erbschaft nicht wirksam ausgeschlagen. Auf Grund der Ausschlagung der Erbschaft ist nicht ausgeschlossen, dass eine von der gesetzlichen Erbfolge abweichende Erbfolge eingetreten ist. Im Übrigen kann der Nachweis der Erbenstellung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur mit einem Erbschein geführt werden (Beschluss vom 15. Oktober 2002 - BVerwG 7 B 94.02 - juris).

7 Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, wegen des Verfahrensfehlers die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

8 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52, 72 GKG.