Beschluss vom 28.06.2006 -
BVerwG 5 B 4.06ECLI:DE:BVerwG:2006:280606B5B4.06.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 28.06.2006 - 5 B 4.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:280606B5B4.06.0]

Beschluss

BVerwG 5 B 4.06

  • VG Gera - 19.10.2005 - AZ: VG 2 K 1159/04 Ge

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juni 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Säcker
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Schmidt und Prof. Dr. Berlit
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 19. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg. Die Revision ist nicht wegen des allein geltend gemachten Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen, das Verwaltungsgericht habe sich seine Überzeugung in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet und damit gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen.

2 1. Diese Verfahrensrüge, die in dem abstrakt heranzuziehenden Maßstab allerdings an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. über das in der Beschwerdeschrift herangezogene Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.> hinaus etwa Beschluss vom 12. Mai 2000 - BVerwG 7 B 22.00 - ZOV 2000, 409) anknüpft, genügt schon nicht den Anforderungen an die Darlegung dieses Verfahrensmangels (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung („Überzeugungsgrundsatz“) im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO betrifft die Feststellung aller für die Entscheidung des Gerichts erheblichen Tatsachen und deren „freie Würdigung“. Es geht hier also um die ausreichende Erforschung und Würdigung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen wie etwa des Akteninhalts, des Vortrags der Beteiligten, eingeholter Auskünfte oder gerichtskundiger Tatsachen (BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2003 - BVerwG 4 B 35.03 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 26). Die Einhaltung der aus § 108 Abs. 1 VwGO entstehenden verfahrensmäßigen Verpflichtung ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter eine aus seiner Sicht fehlerhafte Verwertung des vorliegenden Tatsachenmaterials rügt, aus dem er andere Schlüsse ziehen will als das angefochtene Urteil; denn damit wird ein - angeblicher - Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung angesprochen, der revisionsrechtlich regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen ist und einen Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO grundsätzlich nicht begründen kann (vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 10. Oktober 2001 - BVerwG 9 BN 2.01 - NVwZ-RR 2002, 140; Beschluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 <S. 18 f.>).

3 Der Beklagte macht hier indes in der Gestalt einer Verfahrensrüge der Sache nach eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung der Verordnung über die Entschädigung ehemaliger Gesellschafter für Beteiligungen an enteigneten Unternehmen und die Befriedigung langfristiger Verbindlichkeiten aus der Zeit nach dem 8. Mai 1945 (vom 23. August 1956, GBl DDR I, S. 683) und der zu dieser Verordnung ergangenen 1. Durchführungsbestimmung vom 20. Oktober 1956 (GBl DDR I, S. 1165) dadurch geltend, dass das Verwaltungsgericht die Rechtsvorgängerin der Kläger dem Personenkreis der nach diesen Bestimmungen von einem Entschädigungsanspruch ausgeschlossenen Personen zugeordnet hat, ohne die hierfür erforderlichen Feststellungen zu treffen. Das Beschwerdevorbringen zielt in der äußeren Form einer Verfahrensrüge auf eine inhaltliche Kritik der vorinstanzlichen Rechtsanwendung, die nach der mit der Beschwerde ausführlich begründeten Ansicht des Beklagten unrichtig ist. Eine derartige Rüge vermag die Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung nicht darzulegen.

4 Der mögliche Ausnahmefall einer aktenwidrigen Feststellung des Sachverhalts durch das Gericht ist nicht erkennbar. Er setzt einen zweifelsfreien, also ohne weitere Beweiserhebung offensichtlichen Widerspruch zwischen den Feststellungen der Vorinstanz und dem Akteninhalt voraus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Oktober 2001 - BVerwG 9 BN 2.01 - a.a.O.; Beschluss vom 12. Mai 2000 - BVerwG 7 B 22.00 - ZOV 2000, 409; Beschluss vom 19. November 1997 - BVerwG 4 B 182.97 - Buchholz 406.11 § 153 BauGB Nr. 1 m.w.N.). Ein solch offenkundiger Widerspruch wird durch die Beschwerde auch nicht mit der Benennung von Indizien für eine tatsächlich nicht gegen melderechtliche Regelungen verstoßende Aufenthaltsnahme der Rechtsvorgängerin der Kläger in den westlichen Besatzungszonen bezeichnet (Beschwerdebegründung S. 4) und ist auch in der Sache nicht feststellbar. Nach dem Akteninhalt musste sich nicht die Folgerung aufdrängen, die Rechtsvorgängerin der Kläger habe im Jahre 1946 die sowjetische Besatzungszone tatsächlich ohne Verstoß gegen melderechtliche Vorschriften verlassen.

5 In Bezug auf die Behandlung eines möglichen Entschädigungsanspruchs nach Maßgabe von Nr. 4 der - nicht zur Veröffentlichung bestimmten - „Anweisung Nr. 38/56 vom 14. November 1956“ des Ministeriums der Finanzen betreffend die „Durchführung des Abschnitts I der Verordnung vom 23.8.1956 über die Entschädigung ehemaliger Gesellschafter für Beteiligungen an enteigneten Unternehmen und die Befriedigung langfristiger Verbindlichkeiten aus der Zeit nach dem 8. Mai 1945 (GBl. I, S. 683) und der 1. Durchführungsbestimmung vom 20.10.1956 (GBl. I, S. 1165)“ ist überdies zu bemerken, dass der Beklagte sich auf diese im Wortlaut erst mit der Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vorgelegte Anweisung ausdrücklich weder in dem Verwaltungsverfahren noch in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht berufen hat, obwohl durchgängig die Frage im Streit stand, ob ein Anspruch der Rechtsvorgängerin der Kläger auf Entschädigung bestanden hat und durchsetzbar gewesen wäre oder dies (u.a.) deswegen nicht der Fall sei, weil diese ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland genommen hatte.

6 2. Ein Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen den Überzeugungsgrundsatz ist jedenfalls in der Sache nicht festzustellen. Das Gericht kann sich im Rahmen der ihm durch § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO auferlegten Aufgabe, die für die richterliche Überzeugungsbildung leitend gewesenen Gründe anzugeben, auf die wesentlichen Gründe beschränken. Daraus, dass das Gericht sich nicht mit allen Gesichtspunkten des Vorbringens der Beteiligten und des festgestellten Sachverhalts in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich auseinander gesetzt hat, kann daher noch nicht geschlossen werden, es habe die fraglichen Gesichtspunkte bei seiner Entscheidung unberücksichtigt gelassen (s. etwa BVerwG, Beschluss vom 11. April 2003 - BVerwG 5 B 24.03 - juris; Beschluss vom 12. Juli 1999 - BVerwG 9 B 374.99 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 43; stRspr). Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht von einem seinerzeit einen Entschädigungsanspruch ausschließenden Verlassen der sowjetischen Besatzungszone ausgegangen ist, ohne ausdrücklich auf die von der Beschwerde bezeichneten, aus deren Sicht entgegenstehenden Dokumente einzugehen, ist wegen der mangelnden Eindeutigkeit dieser Dokumente hier unschädlich; denn die von dem Beklagten herangezogenen Bestätigungen zur Freistellung nach § 6 der VO vom 17. Juli 1952 (s. Schreiben des Landes Thüringen/Bezirk Erfurt vom 24. März 1953, des Rates des Bezirks Erfurt <Land Thüringen> vom 30. Mai 1956 sowie das Schreiben des Ministeriums der Finanzen vom 8. August 1956) stammen durchweg aus der Zeit vor dem Erlass der 1. Durchführungsbestimmung vom 20. Oktober 1956 und lassen mithin keine Rückschlüsse darauf zu, ob die handelnden Behörden die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 dieser 1. Durchführungsbestimmung geprüft und inzident verneint haben; das ausgefüllte Formular „Muster 1 für Anteilsfälle, in denen bis zum 15.5.1957 keine Anträge auf Entschädigung freigestellter ehemaliger Gesellschafter nach der Verordnung vom 23.8.1956 gestellt wurden“, enthält sich einer Aussage zu § 4 Abs. 2 der 1. Durchführungsbestimmung.

7 3. Soweit die Beschwerde sinngemäß auch eine Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) hätte erheben wollen, scheiterte diese daran, dass sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügte. Wer die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht erhebt, obwohl er - sachkundig vertreten - in der Vorinstanz keinen förmlichen Beweisantrag gestellt hat (vgl. § 86 Abs. 2 VwGO), muss, um den gerügten Verfahrensmangel prozessordnungsgemäß zu bezeichnen, substantiiert darlegen, warum sich dem Tatsachengericht aus seiner für den Umfang der verfahrensrechtlichen Sachaufklärung maßgebenden materiellrechtlichen Sicht die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung in der aufgezeichneten Richtung hätte aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. März 1978 - BVerwG 6 B 24.78 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 164 <S. 43 f.>, vom 1. April 1997 - BVerwG 4 B 206.96 - NVwZ 1997, 890 <893> sowie vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Dies ist in Bezug auf die im Jahre 1946 obwaltenden Umstände in Bezug auf die Frage, ob die Rechtsvorgängerin der Kläger das Gebiet der sowjetischen Besatzungszone im Januar 1946 ohne Beachtung der polizeilichen Meldevorschrift verlassen hatte, nicht der Fall. Für weiteres Vorbringen des Beklagten zu dieser Frage bis hin zu einem Beweisantrag bestand um so mehr Anlass, als ausweislich der Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2005 der Einzelrichter darauf hingewiesen hatte, dass „der Anwendungsbereich der Entschädigungsverordnung aus dem Jahre 1956 (...) mit Blick auf § 4 Abs. 2 der 1. Durchführungsbestimmung zu der betreffenden Verordnung für die Rechtsvorgänger der Kläger nicht eröffnet gewesen sein (dürfte), so dass ein Entschädigungsanspruch nicht vorlag und damit auch eine stecken gebliebene Entschädigung nicht denkbar ist“.

8 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG; für eine Bezifferung des auf eine unbezifferte Ausgleichsleistung in gesetzlicher Höhe gerichteten Begehrens der Kläger bietet der bisherige Sach- und Streitstand keine genügenden Anhaltspunkte.