Beschluss vom 28.06.2006 -
BVerwG 1 B 134.05ECLI:DE:BVerwG:2006:280606B1B134.05.0

Beschluss

BVerwG 1 B 134.05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juni 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ..., 90489 Nürnberg, beigeordnet.
  2. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Oktober 2005 wird aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  4. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§ 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO).

2 Die zulässige Beschwerde des Klägers hat mit der von ihm erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) Erfolg. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.

3 1. Die von der Beschwerde erhobenen Grundsatzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) greifen allerdings nicht durch. Die als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Fragen zur Auslegung von § 73 Abs. 1 Satz 1 und 3 sowie Abs. 2a AsylVfG sind, soweit sie sich aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs in einem Revisionsverfahren überhaupt stellen würden, durch das Grundsatzurteil des Senats vom 1. November 2005 (BVerwG 1 C 21.04 - DVBl 2006, 511, zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen) bereits rechtsgrundsätzlich geklärt. Wegen der Einzelheiten wird, um Wiederholungen zu vermeiden, insoweit auf den Beschluss des Senats vom heutigen Tage in der Sache BVerwG 1 B 136.05 verwiesen, der sich mit gleichlautenden Grundsatzrügen des Prozessbevollmächtigten des Klägers im dortigen Verfahren befasst.

4 2. Dagegen greift die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch. Die Beklagte bemängelt zu Recht, dass das Berufungsgericht in den Entscheidungsgründen nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Absehen von dem Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG eingegangen ist (Beschwerdebegründung S. 2). Zwar gibt der Verwaltungsgerichtshof im Tatbestand des Urteils wieder, dass der Kläger sich bereits im Widerrufsverfahren u.a. auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG berufen habe, weil er als kaldäischer Christ nach den religiös motivierten Übergriffen auf Christen im Sommer 2004 bei einer Rückkehr in den Irak besonders gefährdet sei (UA S. 3). Dort wird auch angeführt, dass das Verwaltungsgericht den angegriffenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) im Wesentlichen mit der Begründung aufgehoben habe, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 3 AsylVfG nicht gegeben seien, weil für ihn die erhöhte Gefahr bestehe, Opfer terroristischer Anschläge radikaler fundamentalistischer Moslems zu werden (UA S. 3 f.). Der Verwaltungsgerichtshof gibt auch bei Darstellung der rechtlichen Grundlagen in den Entscheidungsgründen den Wortlaut dieser Ausschlussbestimmung wieder (UA S. 6), geht aber im Verlauf der weiteren Urteilsgründe weder ausdrücklich noch sinngemäß auf deren Voraussetzungen ein. Er prüft vielmehr lediglich das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen nach §§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, stellt den Wegfall der Voraussetzungen für die Flüchtlingsanerkennung (politische Verfolgung wegen Asylantragstellung und illegaler Ausreise) fest und verneint das Vorliegen einer Gruppenverfolgung der Christen im Irak gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG. Die vermisste Erörterung des Ausschlusstatbestandes des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG war vorliegend auch nicht entbehrlich. Sie war hier schon deshalb erforderlich, weil das Verwaltungsgericht sein stattgebendes Urteil maßgeblich auch auf diese Vorschrift gestützt hat und der Kläger selbst sich sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof (durch Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts im Schriftsatz vom 7. September 2005 am Ende) darauf berufen hat. Es kommt hinzu, dass ausweislich des Tatbestands des Berufungsurteils der Kläger zur Begründung seines Asylantrags seinerzeit als Fluchtgrund angegeben hat, wegen des Verkaufs alkoholischer Getränke als Christ von Schiiten angegriffen und bedroht worden zu sein. Auch wenn die Flüchtlingsanerkennung „nur“ auf eine Verfolgung wegen illegaler Ausreise und längerem Auslandsaufenthalt gestützt war, hätte der Verwaltungsgerichtshof mithin angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nicht auf Ausführungen dazu verzichten dürfen, ob der Kläger sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Irak abzulehnen. Er ist damit seiner Pflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht nachgekommen, in dem Urteil die Gründe anzugeben, welche für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Aus den Gründen der Entscheidung lässt sich nicht - wie erforderlich - für die Beteiligten und das Rechtsmittelgericht nachvollziehbar entnehmen, warum das Gericht die Voraussetzungen dieses Ausschlussgrundes für einen Widerruf verneint hat. Darin liegt neben dem formellen Begründungsmangel zugleich auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers, die zur Zurückverweisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof führt.

5 Für das erneute Berufungsverfahren weist der Senat zur Auslegung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG auf das zitierte Urteil vom 1. November 2005 a.a.O. hin.