Beschluss vom 28.03.2006 -
BVerwG 1 B 91.05ECLI:DE:BVerwG:2006:280306B1B91.05.0

Beschluss

BVerwG 1 B 91.05

  • Thüringer OVG - 19.05.2005 - AZ: OVG 2 KO 156/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. März 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter
am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde der Kläger zu 1 und 2 wird die Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts über die Nichtzulassung der Revision in seinem Urteil vom 19. Mai 2005 insoweit aufgehoben, als sie das Begehren der Kläger zu 1 und 2 auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG betrifft.
  2. Insoweit wird die Revision zugelassen.
  3. Im Übrigen wird die Beschwerde der Kläger zurückgewiesen.
  4. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Kläger zu 1 und 2 drei Achtel und die Kläger zu 3 und 4 die Hälfte.
  5. Die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Beschwerde ist nur insoweit begründet, als das Oberverwaltungsgericht die Klage der Kläger zu 1 und 2 mit dem (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG und auf Aufhebung der Androhung der Abschiebung nach Aserbaidschan abgewiesen hat (1.). Im Übrigen (hinsichtlich der gesamten Klagebegehren der Kläger zu 3 und 4 sowie hinsichtlich der Klagebegehren der Kläger zu 1 und 2 auf Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 bis 5 AufenthG) hat die Beschwerde dagegen keinen Erfolg (2.).

2 1. Die Beschwerde der Kläger zu 1 und 2 ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang mit der Rüge eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zulässig und begründet. Sie rügt der Sache nach zu Recht, dass das Berufungsgericht die die Erkrankung des Klägers zu 1 betreffenden Beweisanträge aus dem Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 13. April 2005 nicht mit der im Berufungsurteil angeführten Begründung hätte ablehnen dürfen. Sie beanstandet ferner im Ergebnis zu Recht, dass das Berufungsgericht auch die von der Klägerin zu 2 geltend gemachte Erkrankung nicht weiter aufgeklärt hat, obwohl hierzu kein Beweisantrag gestellt war; dem Berufungsgericht hätte sich auch dies aufgrund der Umstände des Falles aufdrängen müssen. Damit hat das Berufungsgericht die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) gegenüber den Klägern zu 1 und zu 2 sowie zugleich das rechtliche Gehör des Klägers zu 1 (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Hierauf kann die Entscheidung beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei Einholung von Sachverständigengutachten über Art, Schwere und Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankungen zu einem für die Kläger zu 1 und 2 günstigeren Ergebnis gelangt wäre.

3 a) Die Prozessbevollmächtigten der Kläger haben mit Schriftsatz vom 13. April 2005 unter Bezugnahme auf ein zuvor von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie F. eingereichtes Attest vom 11. März 2005 ein Abschiebungshindernis wegen der Erkrankung des Klägers zu 1 geltend gemacht und beantragt,
durch Einholung eines psychologischen Gutachtens zu klären, dass der Kläger zu 1
1. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und
2. durch diese Erkrankung eine nahe liegende und konkrete Suizidgefahr für den Kläger zu 1 sowie eine erweiterte Suizidgefahr besteht,
sowie
durch Anfrage an das Auswärtige Amt zu klären, ob in Aserbaidschan die Möglichkeit der Therapie einer posttraumatischen Belastungsstörung zu für zurückgeführte Asylbewerber erschwinglichen Preisen gegeben ist.

4 Das Berufungsgericht ist diesen Beweisanträgen nicht nachgegangen, weil die fachärztliche Bescheinigung „nicht geeignet“ sei, das Vorliegen der behaupteten gesundheitlichen Störungen bei dem Kläger zu 1 „glaubhaft zu machen“. Sie werde nicht den an ärztliche Diagnosen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu stellenden Anforderungen gerecht. Selbst wenn man das Vorliegen einer PTBS unterstelle, sei nicht ersichtlich, inwieweit dies zu Feststellungen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG führen solle. Durch die mit einer derartigen Erkrankung typischerweise einhergehenden Symptome werde ein Gefährdungsgrad, wie er tatbestandlich in § 60 Abs. 7 AufenthG vorausgesetzt werde, nicht erreicht. Vor diesem Hintergrund habe auch mangels Erheblichkeit keine Veranlassung bestanden, den schriftsätzlichen Beweisanregungen zum Vorliegen einer PTBS bei dem Kläger zu 1 und zu deren Behandelbarkeit in Aserbaidschan weiter nachzugehen.

5 Diese Ablehnungsbegründung ist prozessrechtlich nicht haltbar.

6 Das Berufungsgericht stellt in erster Linie darauf ab, dass der Kläger zu 1 die behauptete Erkrankung an einer PTBS mit einhergehender Suizidalität nicht glaubhaft gemacht habe. Das ist kein prozessrechtlich zulässiger Grund für die Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens. Zwar ist nach dem Prozessrecht die Ablehnung eines unsubstantiierten, auf das Geradewohl oder ins Blaue hinein gestellten Beweisantrags grundsätzlich möglich. Ein derart unzulässiger, weil unsubstantiierter „Ausforschungs“-Beweisantrag liegt aber nur vor, wenn für die zugrunde liegenden Tatsachenbehauptungen nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, wenn sie mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich aufgestellt und „aus der Luft gegriffen“ sind (vgl. etwa Beschluss vom 5. März 2002 - BVerwG 1 B 194.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 320 und Beschluss vom 30. Januar 2002 - BVerwG 1 B 326.01 - Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 69). Dies ist bei der vom Kläger zu 1 behaupteten Erkrankung angesichts des vorgelegten fachärztlichen Attests vom 11. März 2005 mit der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht der Fall. Das Berufungsgericht hat zwar seine Ablehnung hierauf nicht ausdrücklich gestützt und den Beweisantrag auch nicht ausdrücklich als unsubstantiiert abgelehnt. Soweit es jedoch die „Glaubhaftmachung“ der Erkrankung verlangt und der vorgelegten fachärztlichen Bescheinigung eine hinreichende Qualität, gemessen an den Forschungskriterien F 43.1 des ICD-10 (International Classification of Diseases, World Health Organisation 1992), abspricht (UA S. 16 ff.), überspannt es - noch abgesehen von der Frage seiner fachlichen Kompetenz zur Beurteilung einer Erkrankung des Klägers zu 1 - unausgesprochen die Anforderungen an einen substantiierten Beweisantrag. Seine Auffassung bürdet den Beteiligten außerdem im Ergebnis eine Art Beweisführungspflicht auf, die mit den Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts, insbesondere den Grundsätzen der Amtsermittlung und der richterlichen Überzeugungsbildung, nicht vereinbar ist (vgl. Beschlüsse vom 29. April 2005 - BVerwG 1 B 119.04 - <juris> und vom 19. Oktober 2001 - BVerwG 1 B 24.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 317, jeweils unter Hinweis auf das Urteil vom 29. Juni 1999 - BVerwG 9 C 36.98 - BVerwGE 109, 174).

7 Die vom Berufungsgericht angeführte weitere Begründung ist ebenfalls nicht geeignet, die Ablehnung der Beweisanträge zu tragen. Wenn das Berufungsgericht den Beweisantrag nicht für erheblich hält, weil auch bei Unterstellung der behaupteten Erkrankung die damit einhergehenden Symptome nicht den Gefährdungsgrad erreichten, der tatbestandlich in § 60 Abs. 7 AufenthG vorausgesetzt sei, nimmt es im Ergebnis eine eigene medizinische Bewertung von Schwere und Ausmaß der Erkrankung vor, ohne die hierfür erforderliche eigene Sachkunde zu besitzen und darzulegen (vgl. etwa Beschluss vom 25. Juni 2004 - BVerwG 1 B 234.03 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 283 m.w.N.). Das Berufungsgericht konnte mangels eigener Sachkunde die Gefahr einer möglichen Verschlimmerung der Erkrankung bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan, insbesondere auch die in dem Attest ebenfalls angeführte Suizidgefahr, nicht ohne Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens beurteilen und verneinen.

8 b) Aus denselben Gründen greift im Ergebnis auch die von der Beschwerde erhobene Aufklärungsrüge hinsichtlich des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG für die Klägerin zu 2 durch. Zwar bezog sich entgegen dem von der Beschwerde erweckten Eindruck der Beweisantrag im Schriftsatz vom 13. April 2005 nur auf die Erkrankung des Klägers zu 1. Angesichts der Tatsache, dass auch für die Klägerin zu 2 ein fachärztliches Attest (vom 17. Februar 2005) mit der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung vorgelegt worden war und das Berufungsgericht selbst zumindest Zweifel geäußert hat, ob sich nicht auch das weitere Attest vom 11. März 2005 zum Teil auf die Klägerin zu 2 bezieht (UA S. 16), hätte sich ihm aber auch im Fall der Klägerin zu 2 eine weitere Aufklärung der Erkrankung durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens von Amts wegen aufdrängen müssen.

9 c) Der Senat macht von der Möglichkeit, das Berufungsurteil im Beschwerdeverfahren gemäß § 133 Abs. 6 VwGO aufzuheben und den Rechtsstreit insoweit wegen der durchgreifenden Verfahrensrügen an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, ausnahmsweise keinen Gebrauch. Denn der Umfang der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache hängt von der bisher noch nicht geklärten Rechtsfrage ab, ob die Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 59 Abs. 3 AufenthG, der in seinem Wortlaut gegenüber § 50 Abs. 3 AuslG verändert ist, rechtswidrig geworden sein kann. Das könnte der Fall sein, wenn die Abschiebungsandrohung nach der neuen Rechtslage nicht nur bei Feststellung zwingender Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG in Bezug auf den bezeichneten Zielstaat rechtswidrig ist (wie bisher bei Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG, vgl. zuletzt Urteil vom 5. Februar 2004 - BVerwG 1 C 7.03 - Buchholz 402.240 § 50 AuslG Nr. 15 m.w.N.), sondern auch dann, wenn das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG festgestellt wird. Die Durchführung eines Revisionsverfahrens kann dem Senat Gelegenheit geben, dies rechtsgrundsätzlich zu klären.

10 2. Hinsichtlich der übrigen Klagebegehren der Kläger hat die Beschwerde keinen Erfolg.

11 a) Sollte mit dem Vortrag, das Oberverwaltungsgericht habe eine weitere Aufklärung des Sachverhalts wegen einer „erweiterten“ Suizidgefahr aufgrund der Erkrankung des Klägers zu 1 für die Kläger zu 2 bis 4 unterlassen, zusätzlich ein Verfahrensmangel auch hinsichtlich des Begehrens der Kläger zu 3 und 4 auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG geltend gemacht werden, fehlt es an einer schlüssig dargelegten Aufklärungsrüge.

12 b) Die von der Beschwerde ferner zu § 60 Abs. 1 AufenthG geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die sich auf alle Kläger bezieht, ist ebenfalls nicht in einer Weise dargelegt, die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.

13 Die Beschwerde hält folgende Fragen für klärungsbedürftig:
Unterliegen armenische Volkszugehörige und deren Abkömmlinge sowie die Ehegatten einer „Mischehe“ (armenisch-aserisch) sowie deren Abkömmlinge in Aserbaidschan einer landesweiten oder auch nur regionalen mittelbaren Gruppenverfolgung deswegen, weil sie in Aserbaidschan weitgehend recht- und schutzlos leben, der Staat es unterlasse, Angehörige der armenischen Minderheit vor Diskriminierung und Schikanen durch die wegen der Berg-Karabach-Ereignisse aufgebrachten Aserbaidschaner wirksam zu schützen? Ist es ihnen in der Regel unmöglich einen Arbeitsplatz zu finden, ihre Kinder eine Schule besuchen zu lassen oder einen Arzt zu finden, der bereit ist, sie ärztlich zu behandeln?
Besteht für nicht aus Berg-Karabach stammende aserische Staatsangehörige und deren Abkömmlinge sowie Ehegatten einer „Mischehe“ (armenisch-aserisch) sowie deren Abkömmlinge bei einer erstmaligen Einreise in die Region Berg-Karabach eine zumutbare inländische Fluchtalternative?

14 Bei diesen Fragen handelt es sich nicht - wie für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung erforderlich - um Rechtsfragen, sondern es geht der Beschwerde, wie auch ihre weiteren Ausführungen zeigen, in erster Linie um die Feststellung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse in Aserbaidschan. Diese ist aber nach der Prozessordnung den Tatsachengerichten vorbehalten und einer Klärung im Revisionsverfahren nicht zugänglich (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Auch soweit die Beschwerde auf im Ergebnis abweichende andere verwaltungsgerichtliche oder oberverwaltungsgerichtliche Entscheidungen verweist, beruht dies schon nach ihrem eigenen Vorbringen nicht auf unterschiedlichen rechtlichen Ausgangspunkten, sondern auf einer abweichenden Würdigung der Auskunftslage. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde daher gegen die ihrer Ansicht nach unrichtige Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, ohne damit einen Revisionszulassungsgrund im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO aufzuzeigen.

15 Weitere Revisionszulassungsgründe macht die Beschwerde nicht geltend.

16 Soweit die Beschwerde zurückgewiesen wird, tragen die Kläger zu den aus dem Tenor ersichtlichen Anteilen gemäß § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Im Übrigen - hinsichtlich der noch offenen Entscheidung über den Anspruch der Kläger zu 1 und 2 nach § 60 Abs. 7 AufenthG, auf den ein Achtel der Kosten des Beschwerdeverfahrens entfällt - folgt die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Rechtsmittelbelehrung
Das Beschwerdeverfahren wird, soweit die Revision zugelassen worden ist, als Revisionsverfahren unter dem Aktenzeichen BVerwG 1 C 6.06 fortgesetzt; der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses zu begründen. Die Begründung ist bei dem Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich oder in elektronischer Form (Verordnung vom 26. November 2004, BGBl I S. 3091) einzureichen.
Für den Revisionskläger besteht Vertretungszwang; dies gilt auch für die Begründung der Revision. Der Revisionskläger muss sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinne des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt als Bevollmächtigten vertreten lassen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie Diplomjuristen im höheren Dienst, Gebietskörperschaften ferner durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt der zuständigen Aufsichtsbehörde oder des jeweiligen kommunalen Spitzenverbandes des Landes, dem sie als Mitglied zugehören, vertreten lassen. In derselben Weise muss sich jeder Beteiligte vertreten lassen, soweit er einen Antrag stellt.