Beschluss vom 28.02.2002 -
BVerwG 6 B 5.02ECLI:DE:BVerwG:2002:280202B6B5.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 28.02.2002 - 6 B 5.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:280202B6B5.02.0]

Beschluss

BVerwG 6 B 5.02

  • OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 18.10.2001 - AZ: OVG 2 L 38/00

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Februar 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht Dr. G e r h a r d t und
V o r m e i e r
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 18. Oktober 2001 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 112,92 € (entspricht 10 000 DM) festgesetzt.

Die Beschwerde ist unbegründet. Die Rechtssache hat nicht die von der Beschwerde allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Soweit die Beschwerde die Reichweite des, wie sie ausführt, "das gesamte deutsche Recht beeinflussenden Grundsatzes von Treu und Glauben" und der "sich aus diesem Grundsatz ableitenden Mitwirkungsobliegenheiten eines Prüflings im ersten juristischen Staatsexamen" geklärt wissen will, spricht sie unmittelbar lediglich Fragen an, die bereits deshalb nicht zur Zulassung der Revision führen können, weil sie nach irrevisiblem Recht zu beantworten sind und daher in einem Revisionsverfahren nicht geklärt werden können. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist vom Oberverwaltungsgericht zur Ergänzung der landesrechtlichen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen herangezogen worden und gehört damit dem Landesrecht an (stRspr; vgl. BVerwGE 69, 46, 48). Da der genannte Grundsatz nicht in einer auf Prüfungsverfahren anwendbaren Vorschrift des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt enthalten ist, die ihrem Wortlaut nach mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes übereinstimmt, folgt die Revisibilität auch nicht aus § 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Der Umstand, dass der Grundsatz von Treu und Glauben Bundes- und Landesrecht gleichermaßen beeinflusst, genügt entgegen der Ansicht der Beschwerde nicht, die uneingeschränkte Befugnis des Bundesverwaltungsgericht zu seiner Auslegung und Anwendung zu begründen.
Die Beschwerde ist demnach in dem Sinne zu verstehen, dass sie die Grenzen geklärt wissen will, die der Grundsatz der Chancengleichheit als prüfungsrechtliche Ausprägung des bundesrechtlichen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) und Art. 12 Abs. 1 GG landesrechtlich begründeten Mitwirkungspflichten des Prüflings, namentlich der Obliegenheit ziehen, "während des laufenden Verfahrens der mündlichen Prüfung" die Befangenheit eines Prüfers zu rügen. Auch insoweit kann die Beschwerde jedoch keinen Erfolg haben, weil diese Grenzen rechtsgrundsätzlich geklärt sind.
Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Grundsatz der Chancengleichheit verletzt wird, wenn das Prüfungsrecht vom Prüfling im Fall der Beeinträchtigung des Prüfungsverfahrens ein Verhalten verlangen würde, das ihm billigerweise nicht zugemutet werden kann. Die Zumutbarkeit ist von den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Art der Prüfung und der jeweiligen Prüfungssituation abhängig (vgl. Urteile vom 17. Februar 1984 - BVerwG 7 C 67.82 - und vom 29. August 1990 - BVerwG 7 C 9.90 - BVerwGE 69, 46, 50 f. bzw. 85, 323, 330; Beschlüsse vom 15. Januar 1993 - BVerwG 6 B 45.92 - und vom 10. August 1994 - BVerwG 6 B 60.93 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 310 S. 244 bzw. Nr. 336 S. 41 f.). Die Mitwirkungspflichten, namentlich die Pflicht, Mängel des Prüfungsverfahrens unverzüglich zu rügen, sind im Lichte der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG zu beurteilen. Aus ihr ergeben sich Grenzen der Pflicht zu unverzüglicher Mängelrüge insbesondere dann, wenn - wie hier - deren Verletzung zum endgültigen Nichtbestehen einer Prüfung führt (vgl. Urteil vom 13. Mai 1998 - BVerwG 6 C 12.98 - BVerwGE 106, 369, 372). Dementsprechend besteht keine Pflicht zur Rüge offensichtlicher und zweifelsfreier Mängel des Prüfungsverfahrens (vgl. Urteil vom 11. August 1993 - BVerwG 6 C 2.93 - BVerwGE 94, 64, 72 f.; Beschluss vom 10. August 1994, a.a.O.). Kann der Zeitpunkt der Rüge die Chancengleichheit der Mitprüflinge nicht beeinflussen und sich nicht wesentlich auf die Beweislage für die Überprüfung durch das Prüfungsamt auswirken (vgl. dazu Urteil vom 22. Juni 1994 - BVerwG 6 C 37.92 - BVerwGE 96, 126, 129 f.), sind an die Unverzüglichkeit der Rüge keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. Urteil vom 13. Mai 1998, a.a.O., S. 373 ff.).
Die Beschwerde zeigt keine Gesichtspunkte auf, die Anlass zu einer Fortentwicklung dieser Grundsätze geben und deshalb ein Revisionsverfahren rechtfertigen könnten. Der Umstand, dass das Bundesverwaltungsgericht diese Grundsätze zwar auf verschiedene Prüfungssituationen in mündlichen und schriftlichen Prüfungen angewendet hat (vgl. etwa Urteil vom 17. Februar 1984, a.a.O.), nicht jedoch auf die hier gegebene besondere Fallgestaltung, verleiht der Sache keine grundsätzliche Bedeutung. Die Beschwerde beruft sich der Sache nach allein auf eine unrichtige Anwendung bestehender Rechtsgrundsätze durch das Oberverwaltungsgericht, was nicht zur Zulassung der Revision führen kann (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 n.F. VwGO Nr. 26 = NJW 1997, 3328).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass hier die Befangenheit des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses aufgrund einer Äußerung im Vorgespräch zur mündlichen Prüfung in Rede steht, die der Kläger nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts vor Beginn der mündlichen Prüfung hätte rügen müssen. Zwar macht die Beschwerde mit gewichtigen Gründen geltend, dass sich die vorliegende Fallgestaltung nicht wesentlich vom Eintritt eines Befangenheitsgrundes während der mündlichen Prüfung unterscheidet (vgl. dazu Niehues, Prüfungsrecht, 3. Aufl. 1994, Rn. 195 m.w.N.), und verweist darauf, dass das Oberverwaltungsgericht Münster eine der vorliegenden entsprechende Fallgestaltung abweichend beurteilt hat (OVG Münster, NVwZ 1988, 458). Auch insoweit rügt sie aber lediglich eine fehlerhafte Anwendung des Zumutbarkeitsmaßstabes durch das Oberverwaltungsgericht im vorliegenden Fall. Der Umstand, dass ein anderes Oberverwaltungsgericht in einem vergleichbaren Fall anders entschieden hat, genügt nicht, die Grundsätzlichkeit der Rechtssache zu begründen.
Soweit die Beschwerde Ausführungen zur Befangenheit des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses und zur Verletzung des Fairnessgebotes macht, befasst sie sich mit Fragen, die für die Berufungsentscheidung nicht erheblich sind (Berufungsurteil S. 7 unten). Im Übrigen ist nicht ersichtlich, inwiefern die Rechtssache diesbezügliche Fragen aufwerfen könnte, die in der Rechtsprechung des beschließenden Senats noch nicht geklärt sind (vgl. insbesondere Urteil vom 11. November 1998 - BVerwG 6 C 8.97 - BVerwGE 107, 363).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 13 Abs. 1 Satz 1, § 14, § 73 GKG (vgl. Abschnitt II Nr. 35.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit NVwZ 1996, 563).