Beschluss vom 28.01.2013 -
BVerwG 2 B 114.11ECLI:DE:BVerwG:2013:280113B2B114.11.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 28.01.2013 - 2 B 114.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2013:280113B2B114.11.0]

Beschluss

BVerwG 2 B 114.11

  • VGH Baden-Württemberg - 14.07.2011 - AZ: VGH 4 S 1915/09

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Januar 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14. Juli 2011 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 13 053,56 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützte Beschwerde (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hat keinen Erfolg.

2 1. Der Kläger wurde nach einer Dienstzeit von fast drei Jahren fristlos aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit entlassen, weil er bei einer Fahrkartenkontrolle in einem Regionalzug einen gefälschten Bahnberechtigungsausweis und einen gefälschten Truppenausweis vorgelegt hatte. Die Staatsanwaltschaft stellte das deswegen gegen den Kläger eingeleitete Ermittlungsverfahren gemäß § 153 Abs. 1 StPO ein, weil ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht gegeben sei, die Schuld und der Schaden als gering anzusehen seien und der Kläger nicht vorbestraft sei.

3 Die Klage gegen die Entlassungsverfügung hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine fristlose Entlassung nicht vorlägen. Der Kläger habe zwar seine Dienstpflichten verletzt, dadurch jedoch keine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr herbeigeführt. Weder habe der Pflichtenverstoß den militärischen Kernbereich betroffen noch sei eine Nachahmung zu befürchten gewesen. Selbst wenn die Gefahr der Nachahmung bestünde, könnte ihr wirksam durch konsequenten Einzug der an die vormals Wehrpflichtigen vergebenen Ausweise oder der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme unterhalb der Entfernung aus dem Dienstverhältnis als milderes Mittel begegnet werden. Auch einer - unterstellten - Ansehensminderung der Bundeswehr hätte durch die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme wirksam begegnet werden können.

4 2. Die Revision ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

5 Dieser Zulassungsgrund ist gegeben, wenn die Beschwerde gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO eine konkrete, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche, noch ungeklärte Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Rechtsfortbildung der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf (stRspr; Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18 S. 21 f.). Dies ist hier nicht der Fall.

6 Die Beschwerde sieht als grundsätzlich klärungsbedürftig die Fragen an,
„ob der durch Dienstpflichtverletzungen eingetretene und durch dienstliche Verfügungen manifestierte Vertrauensverlust der militärischen Vorgesetzten oder der personalbearbeitenden Dienststelle den Kernbereich der militärischen Ordnung berührt und daher eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG rechtfertigt",
„ob die durch Ausgabe von Bahnberechtigungsausweisen garantierte, jederzeitige Verfügbarkeit von Wehrpflichtigen am Dienstort zur Funktionsfähigkeit der Streitkräfte beitrage und ein Missbrauch dieses Systems den Kernbereich der militärischen Ordnung betrifft",
und schließlich,
„welche Anforderungen an die Ansehensgefährdung in der Öffentlichkeit zu richten sind, insbesondere welche Maßstäbe an den Begriff der "Öffentlichkeit" angelegt werden müssen".

7 Diese Fragen rechtfertigen die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht, weil sie nicht rechtsgrundsätzlich bedeutsam sind. Die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 55 Abs. 5 SG ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend geklärt.

8 Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die Vorschrift soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten. Die fristlose Entlassung stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Bereits aus dem Wortlaut des § 55 Abs. 5 SG ergibt sich, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss. Dies ist von den Verwaltungsgerichten aufgrund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen (Urteile vom 9. Juni 1971 - BVerwG 8 C 180.67 - BVerwGE 38, 178 <180 f.> = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 5 S. 2 f., vom 31. Januar 1980 - BVerwG 2 C 16.78 - BVerwGE 59, 361 <362 f.> = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 8 S. 5 f., vom 24. September 1992 - BVerwG 2 C 17.91 - BVerwGE 91, 62 <63 f.> = Buchholz 236.1 § 55 SG Nr. 13 S. 2 f. und vom 28. Juli 2011 - BVerwG 2 C 28.10 - BVerwGE 140, 199 = Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 60, jeweils Rn. 10, sowie Beschluss vom 16. August 2010 - BVerwG 2 B 33.10 - Buchholz 449 § 55 SG Nr. 20 Rn. 6).

9 Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann (Urteile vom 9. Juni 1971 a.a.O., vom 31. Januar 1980 a.a.O., vom 20. Juni 1983 - BVerwG 6 C 2.81 - Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 11 S. 13 f. = NJW 1984, 938, vom 24. September 1992 a.a.O. und vom 28. Juli 2011 a.a.O. Rn. 11 sowie Beschluss vom 16. August 2010 a.a.O. Rn. 7).

10 Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können (vgl. Urteile vom 9. Juni 1971, vom 31. Januar 1980, vom 20. Juni 1983, vom 24. September 1992 und vom 28. Juli 2011 jeweils a.a.O. sowie Beschluss vom 16. August 2010 a.a.O. Rn. 8).

11 Das Berufungsgericht hat die dargestellten Auslegungsgrundsätze seinem Urteil zugrunde gelegt und auf den festgestellten Sachverhalt angewandt. Es hat das Verhalten des Klägers weder dem militärischen Kernbereich zugeordnet noch als eine Straftat von erheblichem Gewicht angesehen. Auch hat es keine Anhaltspunkte für eine Wiederholungs- oder Nachahmungsgefahr festgestellt.

12 Die beiden ersten mit der Beschwerde aufgeworfenen Fragen lassen sich ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens auf der Grundlage der vorliegenden Rechtsprechung im Sinne des Berufungsurteils beantworten. Nach der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts müssen Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich die personelle oder materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar beeinträchtigen, sodass hierunter begrifflich schon nur (schwere) innerdienstliche Dienstpflichtverletzungen fallen können, oder außerdienstliches Verhalten, das unmittelbar hierauf gerichtet ist. Dies ist bei der einmaligen Verwendung eines gefälschten Bahnberechtigungsausweises und eines gefälschten Truppenausweises nicht der Fall. Nicht jeder schuldhafte Pflichtenverstoß eines Soldaten beeinträchtigt unmittelbar die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Bei sonstigem außerdienstlichen Verhalten, wie es dem Soldaten zur Last gelegt wird, muss es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handeln oder eine Wiederholungs- oder eine Nachahmungsgefahr bestehen.

13 Im Übrigen ist entgegen der Auffassung der Beschwerde zur Beantwortung der Frage, ob der Kernbereich der militärischen Ordnung berührt wird, nicht auf das persönliche Empfinden der für den Kläger zuständigen militärischen Vorgesetzten oder seiner personalbearbeitenden Dienststelle abzustellen. Die Frage, ob das Verbleiben im Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde, ist nach dem Normzweck des § 55 Abs. 5 SG und dem darin verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Danach soll gerade nicht jeder mit einem leichteren Fehlverhalten zwangsläufig einhergehende Verlust des „uneingeschränkten“ Vertrauens der Vorgesetzten zur Entlassung aus dem Dienstverhältnis führen können. Vielmehr müssen gerade bei leichterem Fehlverhalten entweder eine Wiederholungsgefahr oder eine Nachahmungsgefahr hinzukommen. Zudem muss feststehen, dass die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann.

14 Die Fragen nach dem Begriff der „Öffentlichkeit“ im Rahmen der Ansehensgefährdung und einer Gefährdung des Kernbereichs der militärischen Ordnung durch den Missbrauch von Bahnberechtigungsausweisen sind im Übrigen schon deshalb nicht entscheidungserheblich, weil das Berufungsgericht beides im Rahmen einer Zusatzargumentation unterstellt und gleichwohl die Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG verneint. Das Berufungsgericht führt aus, dass einer - unterstellten - Ansehensminderung der Bundeswehr durch die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme hätte wirksam begegnet werden können. Ähnlich argumentiert es zur Gefahr der Nachahmung. Entgegen der in diesem Zusammenhang von der Beschwerde vertretenen Auffassung ist zudem grundsätzlich geklärt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Rahmen der Ansehensgefährdung gilt, sodass auch dort zu prüfen ist, ob ihr durch eine Disziplinarmaßnahme unterhalb der Entfernung aus dem Dienstverhältnis als milderes Mittel wirksam begegnet werden kann. Zum möglichen Missbrauch der Bahnberechtigungsausweise schließlich weist das Berufungsgericht noch zusätzlich auf die Möglichkeit des konsequenten Einzugs der Ausweise hin. Hiermit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.

15 Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 GKG.