Beschluss vom 23.07.2007 -
BVerwG 10 B 85.07ECLI:DE:BVerwG:2007:230707B10B85.07.0

Beschluss

BVerwG 10 B 85.07

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 03.01.2007 - AZ: OVG 20 A 2649/05.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Juli 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Januar 2007 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

1 Die Beschwerde ist mit der Rüge eines Verfahrensverstoßes (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) begründet. Im Ergebnis zu Recht beanstandet sie der Sache nach, dass sich dem Berufungsgericht - aus seiner insoweit maßgeblichen rechtlichen Sicht - eine weitere Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) hätte aufdrängen müssen. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache daher gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.

2 Der Kläger hat bereits in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 30. Juni 2005 dargelegt, dass er sich seit einigen Jahren in psychiatrischer Behandlung befindet; u.a. habe es einen stationären Aufenthalt in den Städtischen Kliniken in Dortmund gegeben. Das Berufungsgericht hat mit einem nach § 130a VwGO ergangenen Beschluss das erstinstanzliche Urteil abgeändert, das ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung angenommen hatte. Es hat die danach erforderliche extreme Gefahrenlage für Personen verneint, die - wie der Kläger im Falle einer Rückkehr - nicht in einem funktionierenden Familienverbund in Afghanistan Aufnahme finden (BA S. 20 ff.). Allerdings sei nicht auszuschließen, dass eine solche Situation bei Hinzukommen besonderer Umstände einträte. Von einer relevanten Zuspitzung der Lage sei u.a. bei Erkrankungen auszugehen, die eine „die Grundelemente in Behandlung und Medikamenten übersteigende Versorgung“ erforderten (BA S. 23).

3 Das Berufungsgericht hat verneint, dass eine solche unabweisbar Schutz erfordernde Konstellation für den Kläger zutrifft (BA S. 24). Es hat dazu dargelegt, das ärztliche Attest vom 24. November 2006 - in dem u.a. ausgeführt wird, der Kläger leide unter Depressionen und extremen Schlafstörungen und nehme mehrere im Einzelnen bezeichnete Medikamente ein - biete keinen Anhalt für die Annahme, ihm drohe bei einem Unterbleiben der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung eine Verschlimmerung der Erkrankung dahin gehend, dass eine erhebliche Gesundheitsgefahr zu erwarten wäre. Insbesondere sei dem Attest nichts für das Bestehen eines konkreten Risikos des Suizids zu entnehmen, sollte es sich um einen zielstaatsbezogenen Gesichtspunkt handeln. Die diesen Annahmen zugrunde liegenden medizinischen Wertungen, für die das Berufungsgericht selbst nicht ausreichend sachkundig war, durfte es - auch unter Berücksichtigung der Darlegungen des Klägers, er sei seit einigen Jahren in psychiatrischer Behandlung - nicht ohne eine weitere Aufklärung treffen. Es hätte sich ihm vielmehr auch ohne einen entsprechenden Beweisantrag des Klägers aufdrängen müssen, insoweit eine medizinische Beurteilung einzuholen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu klären gewesen, ob die in dem Attest bezeichneten (oder ihnen entsprechende) Medikamente - wie dort ausgeführt - nicht in Afghanistan erhältlich sind und welche Konsequenzen sich hieraus gegebenenfalls ergeben. Im Übrigen wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass die Gefahr, dass sich eine Erkrankung auf Grund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen ist, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist (vgl. Urteil vom 17. Oktober 2006 - BVerwG 1 C 18.05 - BVerwGE 127, 33 Rn. 15). Auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung hätte es sich dem Berufungsgericht ferner aufdrängen müssen, die erforderlichen Feststellungen zur Klärung der Frage zu treffen, ob es dem Kläger in Afghanistan aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich wäre, „die notwendigen Schritte zur Grundversorgung zu unternehmen“ und ob „hilfsfähige und -bereite Personen ... nicht zur Verfügung stehen“ würden (vgl. BA S. 23).

4 Auf diesem Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht kann die Entscheidung beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn es die gebotenen Aufklärungsmaßnahmen getroffen hätte. Auf die von der Beschwerde geltend gemachte weitere Verfahrensrüge kommt es damit nicht an.