Beschluss vom 23.06.2006 -
BVerwG 1 DB 3.06ECLI:DE:BVerwG:2006:230606B1DB3.06.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.06.2006 - 1 DB 3.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:230606B1DB3.06.0]

Beschluss

BVerwG 1 DB 3.06

  • VG Düsseldorf - 06.02.2006 - AZ: VG 38 K 2129/04.BDG

In dem Verfahren hat der Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Juni 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und Dr. Heitz
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts ... vom 6. Februar 2006 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Antragstellerin hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Antragsgegnerin auferlegt.

Gründe

I

1 Die Antragsgegnerin hatte mit Bescheid vom 5. Juni 1998 gemäß § 9 BBesG den Verlust der Dienstbezüge der Antragstellerin wegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst ab dem 6. April 1998 festgestellt. Zur Begründung war im Wesentlichen ausgeführt, entgegen privatärztlicher Atteste sei zuletzt durch amtsärztliches Gutachten vom 14. Mai 1998 erneut Dienstfähigkeit festgestellt worden. Gerichtliche Rechtsschutzanträge der Antragstellerin blieben ohne Erfolg (zuletzt Senatsbeschluss vom 15. September 1999 - BVerwG 1 DB 40.98 ). Die von der Antragsgegnerin für den Zeitraum vom 6. April 1998 bis zum 31. Oktober 1999 zuviel gezahlten Dienstbezüge in Höhe von 70 648,60 DM wurden von der Antragstellerin erstattet, nachdem Rechtsbehelfe gegen den Rückforderungsbescheid ebenfalls erfolglos geblieben waren (zuletzt OVG ..., Beschluss vom 13. Februar 2003 - 1 A 2131/02).

2 Auf Grund des amtsärztlichen Gutachtens der Medizinalrätin B. vom 8. März 2000 wurde die Antragstellerin wegen dauernder Dienstunfähigkeit mit Wirkung vom 1. Juni 2000 vorzeitig in den Ruhestand versetzt.

3 Im Disziplinarverfahren wegen des Vorwurfs, in der Zeit vom 6. April 1998 bis einschließlich 10. November 1999 dem Dienst unerlaubt ferngeblieben zu sein, hat das Verwaltungsgericht ... durch rechtskräftiges Urteil vom 12. Mai 2005 die Antragstellerin mit der Begründung freigesprochen, es sei nicht auszuschließen, dass sie damals tatsächlich dienstunfähig gewesen sei.

4 Der bereits mit Schreiben vom 20. Januar 2000 gestellte Antrag der Antragstellerin, das Verfahren auf Feststellung des Verlusts ihrer Dienstbezüge wieder aufzugreifen, wurde von der Antragsgegnerin durch Bescheid vom 22. Februar 2000 mit der Begründung abgelehnt, ein Wiederaufgreifensgrund gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwVfG liege nicht vor. Es sei nach Erlass des Feststellungsbescheids keine Änderung der Sach- und Rechtslage eingetreten. Die Antragstellerin habe auch keine neuen Beweismittel vorgelegt, die bei damaliger Kenntnis zu einer günstigeren Entscheidung geführt hätten.

5 Hiergegen hat die Antragstellerin am 23. März 2000 entsprechend der ihr erteilten Rechtsmittelbelehrung beim Verwaltungsgericht ... Klage erhoben. Nachdem das Verwaltungsgericht im Februar 2001 die Sache im Hinblick auf die besonderen Zuständigkeits- und Verfahrensregeln des § 121 BDO an das Bundesdisziplinargericht verwiesen hatte, ist das Verfahren mit dem 1. Januar 2004 gemäß § 85 Abs. 7 Satz 1 und 2 BDG wieder auf das Verwaltungsgericht übergegangen. Durch Beschluss vom 6. Februar 2006 hat das Verwaltungsgericht den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Februar 2000 aufgehoben und diese verpflichtet, das Verfahren betreffend den mit Verfügung vom 5. Juni 1998 festgestellten Verlust der Dienstbezüge wieder aufzugreifen. Dieser Anspruch der Antragstellerin ergebe sich zwar nicht aus § 51 Abs. 1 VwVfG, jedoch aus den §§ 48, 49 VwVfG, wonach das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens im Ermessen der Behörde stehe. Da die Antragstellerin von dem Vorwurf des unerlaubten Fernbleibens vom Dienst freigesprochen worden sei, liege eine Ermessensreduzierung auf Null vor, so dass die Antragsgegnerin zum Wiederaufgreifen verpflichtet sei.

6 Hiergegen hat die Antragsgegnerin rechtzeitig Beschwerde eingelegt. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, der Freispruch beruhe lediglich auf der Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“. Es sei auch nicht widersprüchlich gewesen, das amtsärztliche Gutachten vom 8. März 2000 nur zum Anlass für die Versetzung der Antragstellerin in den vorzeitigen Ruhestand, nicht aber für das Wiederaufgreifen des Verlustfeststellungsverfahrens zu nehmen. Aussagen zum Gesundheitszustand der Antragstellerin für den vorangehenden Zeitraum seien dem Gutachten nicht mit der notwendigen Gewissheit zu entnehmen.

7 Die Antragstellerin tritt dem Beschwerdevorbringen entgegen und verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.

8 Die Vertreterin des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren. Sie ist der Ansicht, der geltend gemachte Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bestehe nicht.

II

9 Die nach § 85 Abs. 7 Satz 3 BDG i.V.m. § 121 Abs. 5 BDO analog (vgl. dazu Beschluss vom 29. März 1999 - BVerwG 1 DB 7.97 - BVerwGE 113, 322 <324>) zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

10 Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass sich das Begehren der Antragstellerin auf § 51 VwVfG bzw. §§ 48, 49 VwVfG stützt und dass gegen die Anwendung dieser Vorschriften auf das rechtskräftig abgeschlossene Verlustfeststellungsverfahren gemäß § 9 BBesG, § 121 BDO keine Bedenken bestehen (stRspr, vgl. zuletzt Beschluss vom 8. September 2003 - BVerwG 2 DW 3.03 - DokBer B 2004, 155 <156> m.w.N.). Eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Wiederaufgreifen des Verlustfeststellungsverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG hat die Vorinstanz zu Recht verneint. Darauf wird Bezug genommen (Beschlussgründe, S. 5 bis 7).

11 Die Antragstellerin hat jedoch einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne gemäß §§ 48, 49 VwVfG. Auch dies hat das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf den Senatsbeschluss vom 29. März 1999 a.a.O. im Ergebnis zutreffend dargelegt. Der Senat hat in dem genannten Beschluss u.a. ausgeführt:
„Das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens nach diesen Regelungen steht im Ermessen der Behörde (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Bei besonders gelagerten Sachverhalten kann das Ermessen der Behörde aber ‚auf Null’ reduziert sein, so dass ein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen besteht. Zwar kommt bei dieser Beurteilung dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zu als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine ausdrückliche andere gesetzliche Wertung zu entnehmen ist (BVerwGE 28, 122 <127>; 44, 333 <336>; BVerwG, NVwZ 1985, 265). Eine solche gesetzliche Wertung ergibt sich hier aber aus der Bundesdisziplinarordnung, so dass eine Ermessensreduzierung auf Null zu bejahen ist.
Der Gesetzgeber war bestrebt, einen Widerspruch zwischen der disziplinargerichtlichen Entscheidung gem. § 121 BDO und der Entscheidung im Disziplinarverfahren zum Tatbestand des Fernbleibens vom Dienst zu vermeiden. Er hat dies in § 121 Abs. 6 BDO dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er unter den genannten Voraussetzungen zu einer Verbindung beider Verfahren verpflichtet hat. Die Bedeutung, die der Gesetzgeber der Vermeidung abweichender Entscheidungen beigemessen hat, ergibt sich daraus, dass er die in § 105 Abs. 3 BDO a.F. und noch in der Entwurfsfassung (vgl. § 105 Abs. 4 in der Fassung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, BTDrucks V/325) enthaltene ‚Kann-Regelung’ im Gesetzgebungsverfahren (Bericht des Innenausschusses, BTDrucks V/1693, S. 9) als zwingende Regelung ausgestaltet hat. Dies ist vom Innenausschuss damit begründet worden, dass es sich um ‚sachgleiche Verfahren’ handele (vgl. auch Behnke, BDO, 2. Aufl., 1970, § 121 Rn. 19: ‚derselbe Streitgegenstand’).
Die ‚Sachgleichheit’ beider Verfahren wird dadurch unterstrichen, dass der Senat wiederholt betont hat, die Feststellung des Verlustes von Dienstbezügen habe auch disziplinarischen Charakter. Hierzu heißt es in dem Beschluss vom 19. September 1995 - BVerwG 1 DB 14.94 - <Buchholz 362 § 109 BRAGO Nr. 1 = BVerwGE 103, 270>: ‚Die Feststellung des Dienstvorgesetzten über den Verlust der Dienstbezüge ist zwar ein beamtenrechtlicher Verwaltungsakt ohne den Charakter einer Disziplinarmaßnahme. Voraussetzung dieser Feststellung ist aber, dass der Beamte schuldhaft dem Dienst ferngeblieben ist, also schuldhaft eine Dienstpflicht verletzt und damit ein Dienstvergehen begangen hat. Bei der gerichtlichen Prüfung, ob die Feststellung zu Recht ergangen ist, liegt der Schwerpunkt in aller Regel nicht in der Bestimmung der Rechtsfolge, sondern in der Beurteilung des Fernbleibens vom Dienst als einer schuldhaften Dienstpflichtverletzung ...’.
In der Praxis stellt sich das gerichtliche Verfahren über die Feststellung des Verlustes von Dienstbezügen als eine Art ‚Vorabverfahren’ dar. Zwar verlangt § 9 BBesG den vollen Beweis der Dienstfähigkeit des Beamten und hat der Antrag nach § 121 BDO aufschiebende Wirkung. Letztlich wird die gerichtliche Entscheidung jedoch auf der Basis der bis zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Beweise getroffen, auch wenn im (förmlichen) Disziplinarverfahren noch weitere Beweiserhebungen zu erwarten sind. Diese Praxis ist nur hinnehmbar, wenn der betroffene Beamte aufgrund der weiteren Beweismittel - bei der Art des Dienstvergehens wird es sich häufig um weitere Sachverständigengutachten handeln - ein Wiederaufgreifen des Verfahrens erreichen kann, falls diese Beweismittel zu einer anderen Beweiswürdigung und zur Einstellung des Disziplinarverfahrens geführt haben. Dementsprechend hat auch der 2. Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts Beamte, die zu Unrecht Wiederaufnahmeanträge bei unanfechtbaren Entscheidungen gem. § 121 BDO gestellt haben, auf die Möglichkeit eines Wiederaufgreifens des Verfahrens verwiesen (Beschluss vom 20. Januar 1994 - BVerwG 2 DW 6.93 -).“

12 Das Verwaltungsgericht hat auch zutreffend dargelegt, dass ein Aufrechterhalten des Verlustfeststellungsbescheids vom 5. Juni 1998 auf Grund der Rechtskraft des Senatsbeschlusses vom 15. September 1999 a.a.O. nicht hinnehmbar wäre. In diesem Zusammenhang hat es zu Recht auf das neue amtsärztliche Gutachten der Medizinalrätin B. vom 8. März 2000 verwiesen. Dieses Gutachten hat letztlich zum rechtskräftigen Freispruch der Antragstellerin vom Vorwurf unerlaubten Fernbleibens vom Dienst geführt. Damit steht fest, dass die Feststellung des Verlusts der Dienstbezüge von Anfang an rechtswidrig war; die Antragsgegnerin hat den Nachweis der Dienstfähigkeit der Antragstellerin im maßgebenden Zeitraum nicht erbracht. Ein Festhalten an dem rechtswidrigen Feststellungsbescheid wäre treuwidrig und damit schlechthin unerträglich, da er bei der ledigen Posthauptsekretärin (Besoldungsgruppe A 8 BBesG) eine besonders hohe finanzielle Belastung zur Folge hatte. Die Antragstellerin hatte nämlich der Antragsgegnerin die angeblich zuviel gezahlten Dienstbezüge in Höhe von 70 648,60 DM erstattet. Dies war nur durch eine Kreditaufnahme möglich.

13 Nach dem Wiederaufgreifen des Verlustfeststellungsverfahrens wird die Antragsgegnerin eine Aufhebung ihres Bescheids vom 5. Juni 1998 zu prüfen haben. Auf Grund der Erwägungen, die im vorliegenden Fall zur Verpflichtung der Behörde geführt haben, das Verfahren wieder aufzugreifen, wird für eine andere Entscheidung als die Aufhebung des Bescheids einschließlich der daran anknüpfenden (bestandskräftigen) Folgebescheide und im Anschluss daran die Ausbezahlung der - letztlich zu Unrecht - zurückgeforderten Dienstbezüge kein Raum sein.

14 Die Kostenentscheidung beruht auf § 114 Abs. 3 und Abs. 1 Satz 2, § 115 Abs. 9 und Abs. 3 Satz 1 BDO i.V.m. § 121 BDO in entsprechender Anwendung.