Beschluss vom 22.12.2011 -
BVerwG 9 B 38.11ECLI:DE:BVerwG:2011:221211B9B38.11.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.12.2011 - 9 B 38.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:221211B9B38.11.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 38.11

  • Hessischer VGH - 01.03.2011 - AZ: VGH 5 A 2928/09

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Dezember 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Christ
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 1. März 2011 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 31 981,30 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde, die sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache stützt (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), bleibt in der Sache ohne Erfolg. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Rechtsvorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts im Interesse der Einheit oder Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Den Darlegungen der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

2 Die Klägerin will geklärt wissen: „Wie ist die Rechtsregel 'lex posterior derogat legi priori' in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und dem aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Willkürverbot auszulegen, wenn eine Gemeinde eine Satzung rückwirkend ersetzt und dieser hinsichtlich ihrer Geltung nur einen zeitlich begrenzten Geltungsanspruch beimisst?“ Diese Frage lässt sich, soweit sie einer allgemeinen Klärung überhaupt zugänglich ist, ohne weiteres beantworten, ohne dass es dafür der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.

3 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf es vor dem Rechtsstaatsprinzip einer besonderen Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines in der Vergangenheit liegenden Verhaltens nachträglich belastend ändert und dadurch das Vertrauen des Bürgers in die Beständigkeit der Rechtsordnung enttäuscht. Danach ist eine Einwirkung des Gesetzgebers auf bereits begründete, aber noch nicht abgewickelte Sachverhalte als unechte Rückwirkung grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, eine echte Rückwirkung als nachträglich ändernder Eingriff in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände hingegen grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Vertrauensschutz steht auch einer echten Rückwirkung jedoch nicht entgegen, wenn ein etwaiges Vertrauen sachlich nicht gerechtfertigt ist, insbesondere wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen musste. Wegen des auch von einer letztlich als ungültig erkannten Norm regelmäßig ausgehenden Rechtsscheins ihrer Wirksamkeit und mit Rücksicht auf den in ihr zum Ausdruck gekommenen Rechtssetzungswillen des Normgebers kann der Bürger nicht stets darauf vertrauen, von einer entsprechenden Regelung für den Zeitraum dieses Rechtsscheins verschont zu bleiben. Diese Gründe besitzen auch bei der kommunalen Steuer ihre Berechtigung, weil und sofern der Bürger sich auf eine Abgabe dieser Art und für diesen Steuertatbestand grundsätzlich einstellen muss, auch wenn es noch zu späteren Korrekturen der Steuersatzung kommen mag (s. zum Vorstehenden nur BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. September 2009 - 1 BvR 2384/08 - NVwZ 2010, 313; BVerwG, Beschluss vom 23. Juni 2008 - BVerwG 9 B 43.07 - Buchholz 401.68 Vergnügungssteuer Nr. 45 Rn. 6, jeweils m.w.N.).

4 Aus diesen Erwägungen ergibt sich ohne weiteres auch die Antwort auf die - von der Beschwerde allgemein gestellte - Frage, ob es dem kommunalen Satzungsgeber möglich ist, eine Satzung in zeitlicher Hinsicht nur teilweise zu ersetzen, mithin der rückwirkend in Kraft gesetzten Änderungssatzung Geltung nur ab einem bestimmten Zeitpunkt, nicht jedoch für den Zeitraum davor beizumessen. Diese Gestaltungsmöglichkeit muss dem Satzungsgeber grundsätzlich schon deshalb offen stehen, weil die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgezeichnete Abwägung zwischen dem Vertrauensschutzinteresse des Bürgers und entgegenstehenden, die Rückwirkung tragenden Belangen des Gemeinwohls zu zeitabschnittsweise unterschiedlichen Ergebnissen führen kann; dies gilt insbesondere dann, wenn der Bürger nach den jeweiligen Gegebenheiten erst ab einem bestimmten Zeitpunkt mit der betreffenden Regelung rechnen musste oder sein Vertrauen nach dem Eintritt bestimmter Umstände weniger schutzwürdig ist als zuvor. Auch kann der Fall so liegen, dass eine ursprünglich rechtmäßig erlassene Satzung erst nachträglich rechtswidrig wird und erst von da an das Bedürfnis nach ihrer rückwirkenden Ersetzung begründet. Ob und inwiefern danach bei der rückwirkenden Inkraftsetzung einer Änderungssatzung eine Differenzierung nach Zeitabschnitten verfassungsrechtlich zulässig, wenn nicht gar geboten ist, lässt sich nicht allgemein, sondern nur für den jeweiligen Einzelfall entscheiden und rechtfertigt daher die Zulassung der Revision nicht.

5 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.

Beschluss vom 19.01.2012 -
BVerwG 9 B 2.12ECLI:DE:BVerwG:2012:190112B9B2.12.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.01.2012 - 9 B 2.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:190112B9B2.12.0]

Beschluss

BVerwG 9 B 2.12

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Januar 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:

  1. Die Anhörungsrüge der Klägerin gegen den Beschluss des Senats vom 22. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Anhörungsrügeverfahrens.

Gründe

1 Die Anhörungsrüge der Klägerin ist unbegründet. Gemäß § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO setzt eine erfolgreiche Anhörungsrüge voraus, dass das Gericht den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Das ist nicht der Fall.

2 Der Vorwurf der Klägerin, der Senat habe Erwägungen zu einer von der Beschwerdebegründung abweichenden Fragestellung angestellt, das Vorbringen der Beschwerde dagegen nicht erwogen, ist unberechtigt. Wie in dem Beschluss vom 22. Dezember 2011 klargestellt, kann nur einer für die erstrebte Revisionsentscheidung erheblichen, im Interesse der Einheit oder Fortbildung des Rechts klärungsbedürftigen Frage grundsätzliche Bedeutung zukommen. Entscheidungserheblich sind aber nicht abstrakte Erwägungen zur Auslegung der Rechtsregel „lex posterior derogat legi priori“, sondern ist vielmehr allenfalls die konkrete, jedoch fallübergreifende Rechtsfrage, ob es dem kommunalen Satzungsgeber möglich ist, eine Satzung in zeitlicher Hinsicht nur teilweise zu ersetzen, mithin der rückwirkend in Kraft gesetzten Änderungssatzung Geltung nur ab einem bestimmten Zeitpunkt, nicht jedoch für den Zeitraum davor beizumessen. Dies hat im Übrigen auch die Klägerin selbst erkannt und in der Beschwerdebegründung hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht (vgl. S. 4 unten, 5 unten und 6 oben). Die so verstandene Frage lässt sich indessen, soweit sie einer von den Besonderheiten des jeweiligen Streitfalles losgelösten Klärung überhaupt zugänglich ist, ohne weiteres in dem im Beschluss vom 22. Dezember 2011 dargelegten Sinne beantworten, ohne dass es dafür der Zulassung der Revision bedarf.

3 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

4 Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil sich die Gerichtsgebühr unmittelbar aus Nr. 5400 der Anlage 1 zum Gerichtskostengesetz ergibt.