Beschluss vom 22.07.2010 -
BVerwG 10 B 20.10ECLI:DE:BVerwG:2010:220710B10B20.10.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.07.2010 - 10 B 20.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:220710B10B20.10.0]

Beschluss

BVerwG 10 B 20.10

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 13.04.2010 - AZ: OVG 18 A 3514/07.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 10. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Juli 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. April 2010 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie genügt schon nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

2 1. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung.

3 Mit der von der Beschwerde aufgeworfenen Frage,
„ob in einem Verfahren, wo weder im Widerrufsanhörungsverfahren, noch dem Bescheid der Beklagten, noch dem Urteil des Verwaltungsgerichts, dem Berufungszulassungsantrag durch die Beklagte und selbst nicht im Beschluss, mit dem die Berufung durch das Oberverwaltungsgericht zugelassen worden war, über Tatsachen, die nachträglich entstanden sind (Urteil des Landgerichts Köln vom 6. Januar 2009 wegen schweren Raubes), das Oberverwaltungsgericht diese Tatsachen aus der Verurteilung in Bezug auf den Tatsachenvortrag als auch dann dessen rechtliche Einordnung (Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG) in dem Berufungsverfahren entscheiden durfte oder ob nicht darin eine Wesensveränderung des ursprünglichen Bescheides liegt und der Betroffene in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar beeinträchtigt wird und damit keine Ergänzung, Präzisierung und Vertiefung des bisherigen Sachverhalts erfolgt, sondern der alte Verwaltungsakt in seinem Kern verändert wird,“
und mit dem weiteren diesbezüglichen Beschwerdevorbringen wird ein grundsätzlicher Klärungsbedarf nicht dargelegt. Die Beschwerde ist der Auffassung, dass die Berücksichtigung der während des Berufungsverfahrens ausgesprochenen strafrechtlichen Verurteilung - mit Urteil des Landgerichts Paderborn vom 16. Dezember 2009 wurde der Kläger unter Einbeziehung des von der Beschwerde angeführten Urteils des Landgerichts Köln vom 6. Januar 2009 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt - den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamts in seinem Wesen verändert und die Rechtsverteidigung des Klägers unzumutbar beeinträchtigt habe, ohne dies näher darzulegen. In diesem Zusammenhang geht sie weder darauf ein, dass nach § 77 AsylVfG bei asylrechtlichen Streitigkeiten im gerichtlichen Verfahren auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist, noch setzt sie sich damit auseinander, dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG sowohl der Flüchtlings- (vgl. § 3 Abs. 4, § 26 Abs. 3 und 4 AsylVfG) als auch der Asylanerkennung (vgl. § 30 Abs. 4, § 26 Abs. 3 AsylVfG) entgegensteht und das Bundesamt nach § 73 AsylVfG zum Widerruf verpflichtet. Bei dieser Sachlage hätte näherer Darlegung bedurft, warum hier entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts eine Wesensveränderung eingetreten sein sollte. Gleiches gilt für die behauptete Unzumutbarkeit der Rechtsverteidigung, nachdem dem Kläger im Berufungsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, zu den neuen Verurteilungen und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen Stellung zu nehmen. Insgesamt zeigt die Beschwerde nach allem nicht auf, dass die Rechtssache eine grundsätzliche, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher nicht beantwortete Rechtsfrage aufwirft.

4 Auch die weitere Frage,
„ob bzw. dass das Oberverwaltungsgericht eine Entscheidung auf die strafrechtliche Verurteilung des Klägers gestützt hat, in unzulässiger Weise dieser in wesentlichen Verfahrensrechten wie u.a. das rechtliche Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG beeinträchtigt wird und der Kläger durch die Berücksichtigung dieser nachgeschobenen Gründe schlechter gestellt wird, als er gestanden hätte, wenn sich die Beklagte im Verwaltungsverfahren darauf gestützt hätte und dann in dem Verfahren hätte eine Stellungnahme der Haftanstalt, des Haftpsychologen oder/und Sachverständigengutachten eingeholt werden können, was das Oberverwaltungsgericht weder im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes noch ansonsten angeregt bzw. selbst veranlasst hat und der Betroffene dann dadurch in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Urteil vom 24. November 1998 - 9 C 53.97 - beeinträchtigt wurde,“
rechtfertigt keine Zulassung der Revision. Insoweit fehlt es ebenfalls an Darlegungen zur Klärungsbedürftigkeit, zumal nicht ersichtlich ist, inwiefern durch die Berücksichtigung neuer Tatsachen im Berufungsverfahren Verfahrensrechte des Klägers oder der Amtsermittlungsgrundsatz einschränkt worden sind.

5 Soweit die Beschwerde schließlich geklärt haben möchte,
„ob bei einem Vorverfolgten, bei dem im Widerrufsverfahren das Vorliegen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG festgestellt wird, hinsichtlich der Gefahren bei Rückkehr/ Abschiebung der herabgesetzte Prognosemaßstab anzulegen ist oder insoweit bei Prüfung des sekundären Abschiebeschutzes gemäß § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG dann trotz der Vorverfolgung der normale Prognosemaßstab gilt,“
fehlt es hinsichtlich der unionsrechtlichen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG an Darlegungen zur Entscheidungserheblichkeit. Denn das Berufungsgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass deren Voraussetzungen unabhängig von dem anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab nicht vorliegen (UA S. 16). Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts inzwischen geklärt, dass bei diesen Abschiebungsverboten der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Sicherheit keine Anwendung findet, sondern gemäß § 60 Abs. 11 AufenthG Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG gilt. Diese Vorschrift privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Danach streitet für denjenigen, der bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Drohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Das kann im Einzelfall selbst dann der Fall sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen Rn. 19 ff.).

6 Auch für die allein auf nationalem Recht beruhenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist der anzuwendende Prognosemaßstab in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Hier ist stets der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden, unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht (stRspr, etwa Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 <330> und Beschluss vom 29. Juni 2009 - BVerwG 10 B 60.08 - Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 35). Einen erneuten Klärungsbedarf aus Anlass des Falles des Klägers zeigt die Beschwerde nicht auf.

7 2. Die Beschwerde rügt weiter eine Abweichung der Berufungsentscheidung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 113 Abs. 1 VwGO. Danach sei ein Nachschieben von Tatsachen und rechtlichen Erwägungen während des gerichtlichen Verfahrens nur zulässig, wenn die nachträglich angegebenen Gründe schon bei Erlass des Verwaltungsaktes vorlagen, dieser durch das Nachschieben nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werde. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung führe die nachträgliche Einbeziehung der strafrechtlichen Verurteilung durch das Berufungsgericht hier zu einer Wesensveränderung. Außerdem würden wesentliche Verfahrensrechte des Klägers beeinträchtigt.

8 Mit diesem und dem weiteren Vorbringen zeigt die Beschwerde keinen inhaltlich bestimmten, die Berufungsentscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz auf, mit dem das Berufungsgericht einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Vorschrift widersprochen hat. Den Darlegungen ist lediglich zu entnehmen, dass das Berufungsgericht - aus Sicht der Beschwerde - die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unzutreffend angewandt hat, nicht aber - wie für eine Divergenzrüge erforderlich -, dass es einen abstrakten, der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts widersprechenden Rechtssatz aufgestellt hat. Im Übrigen setzt sich die Beschwerde auch hier nicht damit auseinander, dass es sich bei der angefochtenen Entscheidung um einen gebundenen Verwaltungsakt handelt und in asylrechtlichen Streitigkeiten hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage § 77 Abs. 1 AsylVfG anzuwenden ist.

9 3. Die Beschwerde hat auch die von ihr geltend gemachten Verfahrensmängel nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt. Sie rügt eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör, weil das Berufungsgericht in Bezug auf § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG eine konkrete Wiederholungsgefahr in der Person des Klägers bejaht habe, ohne hierzu ein medizinisch/fachpsychiatrisches oder fachpsychologisches Sachverständigengutachten einzuholen oder sonstige Ermittlungen zur gegenwärtigen Situation des Klägers durchzuführen. Außerdem habe es in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht berücksichtigt, dass der Kläger zum Personenkreis der „aus den Dörfern in der Umgebung der Kreisstadt M.“ stammenden Yeziden gehöre, er aufgrund seines Alters (24 Jahre alt) in der Türkei als wehrdienstpflichtig und -flüchtig gesucht werde und als „nicht Beschnittener“ nach der zwangsweisen Zuführung zum Militärdienst sowohl von den Militärs selbst, aber auch von den Wehrpflichtigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erhebliche konkrete Gefahr für sein Leib und Leben zu gewärtigen hätte. Mit diesem und dem weiteren Vorbringen zeigt die Beschwerde einen zur Revisionszulassung führenden Verfahrensmangel nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend auf. Ein Verfahrensmangel ist nur dann hinreichend bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird.

10 Die Beschwerde legt nicht dar, dass der Kläger im Berufungsverfahren in Bezug auf den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG auf eine weitere Aufklärung des Sachverhalts hingewirkt hat. Mit Blick auf einen etwaigen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) legt sie auch nicht dar, inwiefern sich dem Berufungsgericht, dem bei seiner Entscheidung neben den einschlägigen Straf- und Ausländerakten auch der aktuelle Vollzugsplan der Justizvollzugsanstalt Köln vom Februar 2010 vorlag, hinsichtlich der vom Kläger ausgehenden Gefahren weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen.

11 Ebenso wenig ist der Beschwerde - in Bezug auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - zu entnehmen, dass der Kläger sich bereits vor dem Berufungsgericht auf etwaige Gefahren im Hinblick auf eine ihm drohende Zuführung zum Militärdienst berufen hat. Im Übrigen ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die staatlichen Stellen grundsätzlich bereit und in der Lage sind, Yeziden Schutz gegen Übergriffe zu gewähren, wenn dieser gesucht wird (UA S. 22).

12 Die Beschwerde legt schließlich auch nicht dar, inwiefern das Berufungsgericht die Herkunft des Klägers „aus den Dörfern in der Umgebung der Kreisstadt M.“ nicht hinreichend berücksichtigt hat und dies zu einer anderen Beurteilung der Verfolgungsgefahr hätte führen müssen. In diesem Zusammenhang setzt sich die Beschwerde insbesondere nicht damit auseinander, dass das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur landesweite Gefahren in Betracht kommen (UA S. 18) und hier - anders als in dem vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 5. Juni 2007 <10 A 11576/06> entschiedenen Fall, das den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung betraf - nicht der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzulegen ist (UA S. 23).

13 Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.