Beschluss vom 22.04.2004 -
BVerwG 6 B 8.04ECLI:DE:BVerwG:2004:220404B6B8.04.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.04.2004 - 6 B 8.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:220404B6B8.04.0]

Beschluss

BVerwG 6 B 8.04

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 11.11.2003 - AZ: OVG 5 A 1064/02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. April 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H a h n und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 11. November 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 112,92 € festgesetzt.

1. Die auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Sache gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll.
Die Beschwerde hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, "ob und inwieweit der Grundsatz von Treu und Glauben überhaupt zu einer Einschränkung des Grundrechts nach Art. 103 GG, bis hin zum völligen Verlust des dem Kläger zustehenden Grundrechts des rechtlichen Gehörs führen kann". Die Beantwortung der Frage sei auch entscheidungserheblich, da trotz festgestellter Unwirksamkeit der Zustellung der an den Kläger gerichteten ordnungsbehördlichen Verfügungen nur die Begründung, ihm sei eine Berufung hierauf nach Treu und Glauben verwehrt, zu der die Klage abweisenden Entscheidung wegen verspäteter Einlegung der Widersprüche nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO geführt habe. Die von der Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage ist geklärt und geht ihrer Bedeutung nach nicht über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus. Dies betrifft sowohl die Anwendbarkeit und Reichweite des Grundsatzes von Treu und Glauben im öffentlichen Recht (a), als auch sein Verhältnis zum Anspruch auf rechtliches Gehör (b).
a) Die Geltung des Grundsatzes von Treu und Glauben im öffentlichen Recht ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, und zwar insbesondere im Verfahrensrecht (Urteil vom 25. Januar 1974 - BVerwG IV C 2.72 - Buchholz 406.11 § 31 BBauG Nr. 9 = BVerwGE 44, 294; BVerfGE 32, 305). Dementsprechend kann sich beispielsweise ein Wehrpflichtiger auf den Mangel der ordnungsgemäßen Bekanntgabe des Einberufungsbescheides nicht berufen, sondern würde sein Recht in unzulässiger Weise ausüben, wenn er die Zustellung des Bescheides unter Verstoß gegen seine wehrrechtliche Melde- und Mitwirkungspflichten vorher schuldhaft vereitelt hat (Urteil vom 29. Juni 1990 - BVerwG 8 C 22.89 - Buchholz 448.0 § 44 WPflG Nr. 9 = BVerwGE 85, 213). Dies ist nicht anders zu beurteilen, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Behörde den Bescheid an die vom späteren Kläger benannte Adresse im Ausland übersendet und er anschließend geltend macht, er habe sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen dort nicht erhalten; der Bescheid hätte ihm vielmehr an eine andere ausländische Adresse zugestellt werden müssen. Zwar besteht keine allgemeine Pflicht, Empfangsvorkehrungen zu treffen. Im Einzelfall kann sich jedoch aus besonderen Rechtsbeziehungen zwischen dem Erklärenden und dem Adressaten ergeben, dass dieser sich zum Empfang von Erklärungen bereithalten und bei einem schuldhaften Verstoß gegen jene Vorsorgepflicht nach den Rechtsgrundsätzen der §§ 162, 242 BGB so behandeln lassen muss, als sei ihm die Erklärung wie im Falle seines pflichtgemäßen Verhaltens zugegangen (vgl. Urteil vom 29. Juni 1990 a.a.O. m.w.N.). So verhält es sich hier.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger mit Schreiben vom 29. November 1997 den Beklagten ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dieser könne Mitteilungen an die im Briefkopf angeführte Postfachanschrift in Italien veranlassen. Dem Kläger sei zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt gewesen, dass der Beklagte ihn durch Ordnungsverfügung zur Kappung von Pappeln auf einem ihm gehörenden Grundstück habe verpflichten wollen. Dies sei ihm in einem Telefonat mit einer Mitarbeiterin des Beklagten am 11. November 1997 mitgeteilt worden. Während dieses Telefongesprächs habe er im Übrigen die Angabe seiner Wohnsitzanschrift in Italien verweigert. Diese Feststellungen sind revisionsrechtlich nicht angegriffen worden. Der Senat ist deshalb an sie gebunden.
Die Wirksamkeit des Grundsatzes von Treu und Glauben wird im vorliegenden Fall auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Kläger im Beschwerdeverfahren vorgetragen hat, er sei als achtzigjähriger Schwerbehinderter nicht in der Lage gewesen, die Bescheide auf dem angegebenen Postamt abzuholen. Er hat durch seine geschilderten Angaben gegenüber dem Beklagten den Anschein erweckt, Zustellungen an ihn könnten unter der angegebenen Postfachadresse in Italien erfolgen. Somit hat er zumindest fahrlässig den Beklagten auf diesen Zustellungsweg gewiesen und ihn auch daran festgehalten, obwohl er zumindest von einem bestimmten Zeitpunkt an nach eigenem Bekunden nicht in der Lage war, auf diese Weise postalische Zustellungen zu empfangen. Die treuwidrige Vereitelung einer Zustellung setzt kein zielgerichtetes Verhalten im Rechtssinn voraus.
b) Die gleiche rechtliche Bewertung gilt, soweit die schuldhafte Obliegenheitsverletzung eines Beteiligten bei der Zustellung eines Bescheides zum Ausschluss der gerichtlichen Sachprüfung und damit zu einer Beschneidung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör führt. Auch ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO kann nämlich nicht mit Erfolg gerügt werden, wenn die auf die Gewährung rechtlichen Gehörs gerichteten Vorkehrungen des Gerichts nur deshalb nicht wirksam geworden sind, weil der betroffene Verfahrensbeteiligte seinen prozessualen Mitwirkungspflichten - namentlich der prozessualen Obliegenheit, sich für gerichtliche Schreiben erreichbar zu halten - nicht nachgekommen ist. Dasselbe ist dann anzunehmen, wenn ein Kläger wegen schuldhaft vereitelter Zustellung eines Bescheides im Verwaltungsverfahren vor Gericht in der Sache kein Gehör findet (vgl. Urteil vom 29. Juni 1990 a.a.O.; Urteil vom 25. Januar 1974 a.a.O.).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.