Verfahrensinformation

In den Verfahren geht es um die Auslegung des § 14a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz, der folgende Regelung trifft: Reist ein unter 16 Jahre altes Kind eines Ausländers nach dessen Asylantragstellung nach Deutschland ein oder wird es hier geboren, so ist dies dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge u.a. dann unverzüglich mitzuteilen, wenn sich ein Elternteil nach Abschluss seines Asylverfahrens ohne Aufenthaltstitel in Deutschland aufhält. Die Anzeigepflicht obliegt neben den Eltern auch der Ausländerbehörde. Mit dem Zugang der Mitteilung gilt ein Asylantrag für das Kind als gestellt. Mit der durch das Zuwanderungsgesetz ab 1. Januar 2005 eingeführten Neuregelung soll verhindert werden, dass durch sukzessive Asylantragstellung für Kinder überlange Aufenthaltszeiten von Familien ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive entstehen. Zu klären ist, ob die Vorschrift auch anzuwenden ist, wenn ein Kind vor ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 2005 nach Deutschland eingereist oder hier geboren ist. Die Frage ist in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte umstritten. Allein im Jahr 2005 sind mehrere Tausend Asylverfahren nach dieser Bestimmung eingeleitet worden.


Pressemitteilung Nr. 63/2006 vom 21.11.2006

Behördlich eingeleitete Asylverfahren auch für vor Januar 2005 geborene Kinder von abgelehnten Asylbewerbern

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute in mehreren Verfahren über die in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte umstrittene Frage entschieden, ob die durch das Zuwanderungsgesetz eingeführte Neuregelung, nach der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) für unter 16 Jahre alte Kinder von abgelehnten Asylbewerbern gegen den Willen ihrer Eltern Asylverfahren eröffnen und durchführen kann, auch für vor dem 1. Januar 2005 (Tag des Inkrafttretens der Neuregelung im Zuwanderungsgesetz) in Deutschland geborene oder nach Deutschland eingereiste Kinder gilt. Das Bundesamt hat inzwischen mehrere tausend derartige Asylverfahren eingeleitet und entschieden. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Praxis des Bundesamts nun als rechtmäßig bestätigt und die maßgebliche Vorschrift (§ 14 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz1) auch in diesen sog. Altfällen für anwendbar erklärt.


Kläger der Ausgangsverfahren sind zwischen 1993 und 2004 in Deutschland geborene Kinder abgelehnter Asylbewerber. In allen Fällen hatte die Ausländerbehörde nach Inkrafttreten der Neuregelung des § 14 a Abs. 2 AsylVfG die zurückliegenden Geburten dem Bundesamt mitgeteilt. Den damit nach der neuen gesetzlichen Vorschrift als gestellt geltenden Asylantrag hat das Bundesamt jeweils abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote (nach § 60 AufenthG) nicht vorliegen; den Kindern wurde die Abschiebung mit ihren Eltern in den Heimatstaat angedroht. Während das Oberverwaltungsgericht Berlin die Ablehnungsbescheide aufgehoben hat, weil die Neuregelung nicht für Altfälle gelte, haben die Oberverwaltungsgerichte Lüneburg und Koblenz sowie der Verwaltungsgerichtshof Mannheim die Bescheide als rechtmäßig bestätigt.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin aufgehoben und in den übrigen Verfahren die Revisionen der Kläger zurückgewiesen. Nur soweit das Bundesamt die Asylanträge in zwei Fällen nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als "offensichtlich" unbegründet abgelehnt hat, hat das Bundesverwaltungsgericht die Bescheide aufgehoben. Nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts erfasst die neue Verfahrensvorschrift des § 14a Abs. 2 AsylVfG nach allgemeinen Auslegungskriterien und mangels einer entgegenstehenden Übergangsregelung seit 1. Januar 2005 auch Altfälle, d.h. auch Kinder abgelehnter Asylbewerber ohne Aufenthaltsgenehmigung, die vor dem Inkrafttreten der neuen Bestimmung zu ihren Eltern nachgereist oder in Deutschland geboren sind. Hierfür spricht insbesondere der Sinn und Zweck der Vorschrift, einer Verzögerung der Ausreise oder Abschiebung von Familien ohne Bleiberecht durch sukzessive Asylantragstellung für Kinder möglichst umfassend entgegenzuwirken.


Fußnote:

1 § 14a Abs. 2 AsylVfG trifft sinngemäß folgende Regelung: Reist ein unter 16 Jahre altes Kind eines Ausländers nach dessen Asylantragstellung nach Deutschland ein oder wird es hier geboren, so ist dies dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge u.a. dann unverzüglich anzuzeigen, wenn sich ein Elternteil nach Abschluss seines Asylverfahrens ohne Aufenthaltstitel in Deutschland aufhält. Die Anzeigepflicht obliegt neben den Eltern auch der Ausländerbehörde. Mit dem Zugang der Anzeige gilt ein Asylantrag für das Kind als gestellt.


 


BVerwG 1 C 5.06 - Urteil vom 21.11.2006

BVerwG 1 C 8.06 - Urteil vom 21.11.2006

BVerwG 1 C 10.06 - Urteil vom 21.11.2006

BVerwG 1 C 20.06 - Urteil vom 21.11.2006


Urteil vom 21.11.2006 -
BVerwG 1 C 5.06ECLI:DE:BVerwG:2006:211106U1C5.06.0

Urteil

BVerwG 1 C 5.06

  • OVG Berlin-Brandenburg - 01.02.2006 - AZ: OVG 3 B 35.05

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. November 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Mallmann, Hund, Richter und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
für Recht erkannt:

  1. Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. Februar 2006 und des Verwaltungsgerichts Berlin vom 21. Juni 2005 geändert.
  2. Die Klage wird abgewiesen.
  3. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen.

Gründe

I

1 Die Klägerin und der Kläger sind die in den Jahren 2000 und 2001 in Berlin geborenen Kinder eines Libanesen und einer Palästinenserin ungeklärter Staatsangehörigkeit aus dem Libanon. Sie wenden sich gegen die behördliche Einleitung eines Asylverfahrens nach § 14a Abs. 2 AsylVfG und begehren die Aufhebung des danach ergangenen negativen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).

2 Die Eltern der Kläger sind ehemalige Asylbewerber, die erfolglos Asylverfahren betrieben haben. Der Asylantrag des Vaters wurde mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamts vom 26. August 1992 abgelehnt. Ein Folgeantrag des Vaters wurde mit Bescheid vom 26. August 1993 als unbeachtlich abgelehnt. Der Vater nahm seine hiergegen erhobene Klage im Jahr 2001 zurück. Den Asylantrag der Mutter lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 12. September 1994 als offensichtlich unbegründet ab. Die hiergegen erhobene Klage wurde gleichfalls im Jahr 2001 zurückgenommen. Die Eltern der Kläger sind wegen Passlosigkeit geduldet.

3 Mit Schreiben vom 10. Januar 2005 zeigte die Ausländerbehörde dem Bundesamt die Geburt der Kläger gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG an. Das Bundesamt leitete daraufhin ein Asylverfahren ein. Mit dem angegriffenen Bescheid vom 8. April 2005 lehnte es die nach § 14a Abs. 2 AsylVfG als gestellt geltenden Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1). Gleichzeitig stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (Nr. 2) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Außerdem drohte das Bundesamt den Klägern für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung die Abschiebung in den Libanon an (Nr. 4).

4 Hiergegen haben die Kläger Klage erhoben. Sie haben u.a. vorgetragen, dass sie Asylgründe oder Abschiebungshindernisse nicht geltend machen wollen. Es gehe ihnen vielmehr darum, nicht gegen ihren Willen in ein Asylverfahren gezwungen zu werden. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben. Mit Urteil vom 1. Februar 2006 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Berufung des Bundesamts gegen dieses Urteil zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der angegriffene Bescheid sei mangels einer rechtlich beachtlichen Asylantragstellung durch die Kläger rechtswidrig. Auch die Voraussetzungen für eine Antragsfiktion gemäß § 14a Abs. 2 AsylVfG lägen nicht vor, da diese Vorschrift auf die vor ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 2005 geborenen Kläger nicht anwendbar sei. Maßgeblich hierfür sei der Wortlaut der Norm. Die durchgängige Verwendung von Präsensformulierungen in § 14a Abs. 2 AsylVfG spreche zwar für sich allein betrachtet nicht gegen eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Rückanknüpfung an Anzeigetatbestände, die bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten seien. Die Präsensform gewinne aber Bedeutung im Hinblick auf die vom Gesetzgeber statuierte Rechtsfolge der Vorschrift, nämlich die Verpflichtung, Geburt oder Einreise dem Bundesamt „unverzüglich“ anzuzeigen. Damit werde ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Eintritt des tatbestandlichen Ereignisses Geburt oder Einreise einerseits und der Erfüllung der daraus erwachsenden Verpflichtung zur Anzeige des Ereignisses beim Bundesamt andererseits hergestellt. Dieser Zusammenhang sei nicht gewahrt, wenn § 14a Abs. 2 AsylVfG auf alle vor dem Inkrafttreten der Norm erfolgten Einreisen oder Geburten, die - wie im Fall der Kläger - schon Jahre zurückliegen könnten, Anwendung fände. Die Unanwendbarkeit der Vorschrift in derartigen Fällen widerspreche nicht der gesetzgeberischen Intention. Danach solle durch die Fiktion der Asylantragstellung für ledige Kinder bis zum vollendeten 16. Lebensjahr verhindert werden, dass durch sukzessive Asylantragstellung überlange Aufenthaltszeiten in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen entstünden. Diese Absicht würde auch durch die Anwendung des § 14a Abs. 2 AsylVfG auf gegenwärtige Fallkonstellationen verwirklicht. Für nach dem 1. Januar 2005 geborene oder eingereiste Kinder sei eine spätere Asylantragstellung mit der Zielsetzung, für die Gesamtfamilie eine Verlängerung der Aufenthaltszeit zu erreichen, ausgeschlossen. Die rückwirkende Anwendung des § 14a Abs. 2 AsylVfG würde der Norm zwar einen weitergehenden Anwendungsbereich eröffnen. Die davon erfassten Fälle ließen sich aber über § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylVfG lösen.

5 Zur Begründung ihrer gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision macht die Beklagte geltend, § 14a Abs. 2 AsylVfG sei auch auf vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland geborene Kinder anwendbar. Der Wortlaut der Vorschrift stehe dem nicht entgegen.

6 Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil.

7 Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht weist darauf hin, dass inzwischen beabsichtigt sei, in das derzeit geplante Änderungsgesetz eine Regelung einzufügen, die klarstellt, dass § 14a Abs. 2 AsylVfG auch für Altfälle gilt.

II

8 Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

9 Wie in der Revisionsverhandlung erörtert, begehren die Kläger die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Unanwendbarkeit des § 14a Abs. 2 AsylVfG in ihrem Falle. Das Rechtsschutzbegehren wird - unter bewusstem Verzicht auf eine weitergehende gerichtliche Sachprüfung der Ablehnung von Asyl und Abschiebungsschutz sowie einer Abschiebungsandrohung und der damit verbundenen nachteiligen Folgen - mit dem isolierten Anfechtungsantrag geltend gemacht. (Hilfs-)Anträge auf Verpflichtung (zur Anerkennung als Asylberechtigte und als Flüchtlinge nach § 60 Abs. 1 AufenthG sowie auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG) werden nicht gestellt. Dabei geht auch der Prozessbevollmächtigte davon aus, dass der angefochtene Bescheid bei Abweisung der isolierten Anfechtungsklage ohne materielle Prüfung der Asyl- und Abschiebungsschutzanträge unanfechtbar und bestandskräftig wird.

10 Die isolierte Anfechtung des Bundesamtsbescheids ist statthaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - insbesondere auch zu Asylverfahren - ist zwar grundsätzlich von einem Vorrang der Verpflichtungsklage auszugehen mit der Folge, dass Rechtsschutz gegen die Ablehnung eines begünstigenden Verwaltungsaktes grundsätzlich (nur) durch eine Verpflichtungsklage („Versagungsgegenklage“) zu erstreiten ist, welche die Aufhebung des Versagungsbescheids umfasst, soweit er entgegensteht. Die Rechtsprechung erkennt aber an, dass allein die Aufhebung des Versagungsbescheids ausnahmsweise ein zulässiges - gegenüber der Verpflichtungsklage für den Kläger vorteilhafteres - Rechtsschutzziel sein kann, wenn eine mit diesem Bescheid verbundene Beschwer nur so oder besser abgewendet werden kann.

11 Die isolierte Anfechtung - wie sie die Kläger hier betreiben - bietet gegenüber einem Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 14a Abs. 3 AsylVfG den Vorteil, dass dessen nachteilige Folgen, die denjenigen einer bestandskräftigen Ablehnung entsprechen (§ 71 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG), bei einem Erfolg der Klage nicht eintreten, weil der negative Bescheid des Bundesamts ersatzlos aufgehoben wird. Dies legitimiert auch die Zulassung der isolierten Anfechtung als alleiniges Ziel einer Klage wie hier, die sich nur dagegen wendet, dass der angefochtene Bescheid des Bundesamts wegen Verstoß gegen § 14a Abs. 2 AsylVfG rechtswidrig ist. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 10.06 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts vorgesehen) Bezug genommen.

12 Das Berufungsgericht hat aber die Klage zu Unrecht als begründet angesehen. Der angefochtene Bescheid ist nicht mangels eines beachtlichen Asylantrags der Kläger rechtswidrig.

13 § 14a Abs. 2 AsylVfG gilt auch für vor dem 1. Januar 2005 in Deutschland geborene Kinder (vgl. ebenso OVG Lüneburg, Urteil vom 15. März 2006 - 10 LB 7/06 - juris; VGH Mannheim, Urteil vom 21. Juni 2006 - A 3 S 258/03 - InfAuslR 2006, 429 <431 f.>; OVG Koblenz, Urteil vom 25. April 2006 - 6 A 10211/06, AuAS 2006, 153). Die Vorschrift enthält zwar keine ausdrückliche Regelung ihres zeitlichen Anwendungsbereichs, auch fehlt eine Übergangsvorschrift im Zuwanderungsgesetz. Für eine Anwendbarkeit auf „Altfälle“ sprechen aber die Entstehungsgeschichte sowie vor allem Sinn und Zweck der Vorschrift. Sie soll vermeiden, dass durch sukzessive Antragstellung überlange Aufenthaltszeiten in Deutschland ohne aufenthaltsrechtliche Perspektive für die Betroffenen entstehen (vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs BTDrucks 15/420, S. 108). Dem Willen des Gesetzgebers entspricht es, die von ihm als Missbrauch und Umgehung angesehene Vorgehensweise, bei drohender Abschiebung sukzessiv Asylanträge für minderjährige Kinder zu stellen, möglichst rasch, umfassend und effektiv zu unterbinden. Das ist nur zu erreichen, wenn § 14a Abs. 2 AsylVfG auch auf „Altfälle“ angewendet wird (vgl. im Einzelnen das erwähnte Urteil des Senats vom heutigen Tag im Verfahren BVerwG 1 C 10.06 ).

14 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.