Beschluss vom 19.07.2012 -
BVerwG 1 B 9.12ECLI:DE:BVerwG:2012:190712B1B9.12.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 19.07.2012 - 1 B 9.12 - [ECLI:DE:BVerwG:2012:190712B1B9.12.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 9.12

  • VG Oldenburg - 12.03.2010 - AZ: VG 11 A 2857/08
  • Niedersächsisches OVG - 26.01.2012 - AZ: OVG 11 LB 528/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Juli 2012
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
und Dr. Maidowski
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2012 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde, die ausschließlich auf den Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO) gestützt ist, hat keinen Erfolg.

2 Der Kläger wurde 1990 in Deutschland geboren. Sein Vater war mit seiner Ehefrau und mehreren Kindern 1985 nach Deutschland eingereist und hatte erfolglos einen Asylantrag mit der Behauptung gestellt, ihm drohe im Libanon Verfolgung als staatenloser Kurde. Aufgrund einer niedersächsischen Bleiberechtsregelung wurden dem Kläger seit 1992 befristete Aufenthaltstitel erteilt. Im September 2007 beantragte er die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Der Beklagte lehnte dies ab, weil der Kläger die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nicht erfüllt habe, obwohl sich inzwischen herausgestellt habe, dass er wie sein Vater türkischer Staatsangehöriger sei und einen Pass deshalb erlangen könne. Das Verwaltungsgericht verpflichtete den Beklagten zur Neubescheidung des Antrags, das Oberverwaltungsgericht wies die Klage unter Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung ab.

3 Mit seiner Beschwerde rügt der Kläger die Verletzung seines Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht habe sich für seine Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit des Klägers und seines Vaters auf tatsächliche Erkenntnisse gestützt, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden seien und zu denen er deshalb vor Erlass des Urteils nicht habe Stellung nehmen können. Es habe für seine Annahme, der Kläger gehöre wie sein Vater einer kurdisch-arabischen Großfamilie an, deren Mitglieder mit unzutreffenden Behauptungen ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erlangt hätten, im angegriffenen Urteil lediglich eine Reihe von Senatsentscheidungen benannt, ohne ihm diese zuvor zugänglich gemacht zu haben.

4 Mit dieser Rüge ist jedoch ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, der zur Zulassung der Revision führen könnte, nicht dargetan. Denn die Berufungsentscheidung beruht nicht auf dem von der Beschwerde zutreffend benannten Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG. Vielmehr hat das Oberverwaltungsgericht seine Annahme, der Kläger sei nicht staatenlos, sondern türkischer Staatsangehöriger, entscheidungstragend auf die Angaben des Klägers zu seinem Vater und Großvater gestützt: Danach steht fest, dass der Großvater des Klägers die türkische Staatsangehörigkeit besessen hat und dass der Vater des Klägers und seine Familie zu der jedenfalls ursprünglich im Gebiet um Ückavack angesiedelten Großfamilie Tek gehören. Gegen diese beiden tatsächlichen Feststellungen - die u.a. auch die Annahme beinhalten, dass der Großvater des Klägers nach seiner Übersiedlung nicht ausgebürgert worden ist - hat der Kläger Verfahrensrügen nicht vorgebracht, so dass der Senat an sie gebunden ist (§ 137 Abs. 2 VwGO). Auch gegen die weitere tatsächliche Feststellung, dass der Kläger ebenso wie sein Vater die türkische Staatsangehörigkeit in einer derartigen Situation nach türkischem Recht erlangt hat, sind Verfahrensrügen nicht erhoben worden. Allein auf diese Feststellungen hat das Berufungsgericht seine Entscheidung gestützt, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis wegen Verstoßes gegen die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nicht zu, weil er als türkischer Staatsangehöriger ohne Weiteres die Ausstellung entsprechender Papiere erreichen könne (UA S. 10 ff.).

5 Demgegenüber hat das Berufungsgericht den Namen und die Identität des Großvaters des Klägers letztlich offengelassen, weil es für den Rechtsstreit nicht hierauf, sondern allein auf den Umstand ankomme, dass der Großvater die türkische Staatsangehörigkeit besessen habe (UA S. 10, 13). Aus den tatsächlichen Feststellungen, die in den von der Beschwerde in Bezug genommenen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2009, 10. Juni 2008 und 27. September 2007 enthalten sind, leitet das Berufungsgericht für die Staatsangehörigkeit des Klägers, seines Vaters und Großvaters nichts ab. Sie sollen lediglich die Annahme des Gerichts stützen, dass es zwischen 1985 und 1990 zahlreiche Fälle gegeben habe, in denen Angehörige arabisch-kurdischer Großfamilien in Deutschland mit der unzutreffenden Behauptung, staatenlos zu sein, um Asyl nachgesucht hätten, um ein Bleiberecht zu erlangen (UA S. 11 f.). Diese Annahme zu einem typischen Geschehensablauf wäre zwar geeignet, die Plausibilität der entscheidungstragenden Feststellungen über die - zur Überzeugung des Berufungsgerichts ohnehin feststehenden - Staatsangehörigkeit des Klägers und seines Vaters zu stützen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die von der Beschwerde benannten tatsächlichen Feststellungen in den vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen für die Feststellung der Staatsangehörigkeit des Klägers nicht erheblich sind, sondern diese lediglich ergänzen.

6 Zur Klarstellung merkt der Senat allerdings an, dass die Praxis des Berufungsgerichts, sich für tatsächliche Feststellungen auf Erkenntnisse „aus einer Vielzahl von Verfahren“ zu stützen, ohne diese zuvor ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt zu haben, einen Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG darstellt. Denn die Verfahrensbeteiligten müssen die Möglichkeit haben, alle Erkenntnisquellen, auf die sich das Gericht stützen will, vor der Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen, um sich ggf. mit ihnen auseinandersetzen und Einwände anbringen zu können (stRspr, Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 860.82 - BVerwGE 67, 83). Dies gilt im Hinblick auf die Schwierigkeiten, Tatsachenfeststellungen mit Bezug zu Auslandssachverhalten zu treffen, in besonderem Maße für flüchtlingsrechtliche und ggf. auch für aufenthaltsrechtliche Verfahren. Zu den Erkenntnisquellen in diesem Sinne zählen in erster Linie Gutachten, Länderberichte und ähnliche Dokumente, auf die die Verfahrensbeteiligten üblicherweise durch Aufstellung und Übersendung von Erkenntnismittellisten hingewiesen werden. Will das Gericht Erkenntnisquellen aus anderen Verfahren verwenden, so muss es den Beteiligten auch dies vorab mitteilen und ihnen rechtliches Gehör einräumen, selbst wenn die Verfahren den Beteiligten bekannt sein sollten (Beschluss vom 3. Mai 2002 - BVerwG 4 B 1.02 - juris). Jedenfalls dann, wenn ein Gericht sich für seine tatsächlichen Feststellungen nicht nur auf derartige Quellen stützen, sondern lediglich die Sachverhalte vergleichbarer Fälle, wie sie in Gerichtsentscheidungen als zur Überzeugung des Gerichts feststehend wiedergegeben werden, verwerten und aus ihnen Schlussfolgerungen ableiten will, sind auch diese Sachverhalte und damit die jeweils betroffenen Gerichtsentscheidungen Erkenntnismittel, die den Beteiligten vorab mitgeteilt werden müssen.

7 So liegt es hier. Das Berufungsgericht zitiert in dem angegriffenen Urteil insgesamt 19 Entscheidungen, von denen lediglich wenige veröffentlicht sind; auf keine dieser Entscheidungen sind die Beteiligten vorab hingewiesen worden. In diesen Entscheidungen werden - soweit dies bei den drei in der Datenbank juris und auf der Homepage des Berufungsgerichts veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich ist - keine Erkenntnisquellen zu tatsächlichen Feststellungen zitiert. Vielmehr leitet das Berufungsgericht aus den Sachverhalten der mitgeteilten Entscheidungen die Schlussfolgerung ab, es habe in der Zeit zwischen 1985 und 1990 einen typischen Geschehensablauf gegeben, nämlich die Zuwanderung von Mitgliedern arabisch-kurdischer Großfamilien nach Deutschland, die mit unzutreffenden Behauptungen ein Bleiberecht erlangt hätten. Den Beteiligten des Verfahrens hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, zu diesen ihnen nicht mitgeteilten Entscheidungen vorab Stellung zu nehmen, um dem Eindruck entgegenwirken zu können, der Vater des Klägers habe sich als Mitglied einer solchen Familie ebenso verhalten. Der damit vorliegende Verstoß gegen das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör hat sich, wie ausgeführt, im vorliegenden Verfahren allerdings nicht ausgewirkt, da die entscheidungstragenden Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Klägers allein auf dessen Angaben zur Staatsangehörigkeit seines Vaters und Großvaters beruhen.

8 Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

9 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3 sowie aus § 52 Abs. 2 GKG.