Beschluss vom 18.08.2004 -
BVerwG 1 D 4.04ECLI:DE:BVerwG:2004:180804B1D4.04.0

Beschluss

BVerwG 1 D 4.04

  • VG Wiesbaden - 30.04.2004 - AZ: VG 26 BK 42/04 (V)

In dem Disziplinarverfahren hat der Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. August 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht A l b e r s
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht M a y e r und Dr. H e i t z
beschlossen:

  1. Auf die Berufung der Einleitungsbehörde wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 30. April 2004 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Wiesbaden, 2. Disziplinarkammer, zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

I


Der Bundesdisziplinaranwalt hat den Beamten angeschuldigt,
in der Zeit von November 1998 bis 23. März 1999 in einer Vielzahl von Fällen von ihm zuzustellende Postsendungen von der Zustellung zurückgestellt zu haben;
in der Zeit von September 1997 bis März 1999 wiederholt Nachnahmebeträge nicht an die Postkasse abgeliefert, sondern für sich verbraucht zu haben.
Im teilweise sachgleichen Strafverfahren wurde gegen den Beamten durch rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 25. April 2000 wegen unbefugten Unterdrückens von ihm anvertrauten Sendungen in zwei Fällen sowie Unterschlagung eines Nachnahmebetrages in Höhe von 752,63 DM eine Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 60 DM festgesetzt.
Durch Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 30. April 2004 ist der Beamte in das Amt eines Postoberschaffners (Besoldungsgruppe A 3) versetzt worden. Gegen dieses Urteil hat die Einleitungsbehörde rechtzeitig Berufung eingelegt und beantragt, den Beamten unter Aufhebung des angefochtenen Urteils aus dem Dienst zu entfernen.

II


Die Berufung der Einleitungsbehörde hat insoweit Erfolg, als das am 30. April 2004 verkündete Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden wegen eines schweren Verfahrensmangels gemäß § 85 Abs. 7 Satz 3 BDG, § 85 Abs. 1 Nr. 3 BDO aufzuheben und das Verfahren zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Wiesbaden zurückzuverweisen ist.
Der Verfahrensmangel besteht darin, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts keine Ausführungen zur Schuldform und auch keine Feststellungen zum Zueignungswillen des Beamten enthält. Da die Berufung der Einleitungsbehörde ihrer Begründung nach auf die Disziplinarmaßnahme beschränkt ist und der Senat bei einer auf die Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung an die tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils zum objektiven und subjektiven Tatbestand und an die disziplinarrechtliche Würdigung als Dienstvergehen gebunden ist, steht der Umfang dieser Bindungswirkung nicht fest, wenn Feststellungen zur Schuldform fehlen.
Zwar heißt es im Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 25. April 2000, der Beamte habe den am 20. März 1999 eingezogenen Nachnahmebetrag in Höhe von 752,36 DM an den Absender nicht ausgezahlt, sondern für sich verwendet. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, es lege diese Feststellungen, die von dem Beamten als richtig anerkannt worden seien, seiner Entscheidung zugrunde. Bezüglich der weiteren vier Fälle nicht abgerechneter Nachnahmebeträge, die nicht Gegenstand des Strafbefehls waren, führt das Verwaltungsgericht aus, es gehe davon aus, dass der Beamte die Beträge vereinnahmt, mit seinem Privatgeld vermengt und nicht abgerechnet habe. Alle Pflichtverletzungen habe der Beamte im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangen und durch sein pflichtwidriges Verhalten ein schwerwiegendes Dienstvergehen gemäß § 77 Abs. 1 BBG begangen. Ausführungen dazu, ob der Beamte das Dienstvergehen vorsätzlich oder fahrlässig begangen hat, enthält das Urteil jedoch nicht.
Auch durch Auslegung des erstinstanzlichen Urteils kann die Schuldform, die das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, nicht bestimmt werden. Zwar regelt § 15 StGB, dass strafbar nur vorsätzliches Handeln ist, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Die vom Amtsgericht ... im Strafbefehl angenommene Untreue gemäß § 266 StGB kann nur vorsätzlich begangen werden. Von einem Strafbefehl geht aber gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 BDO keine Bindungswirkung aus. Die im angefochtenen Urteil enthaltenen Ausführungen, der Beamte habe die strafgerichtlichen Feststellungen zugestanden und im Übrigen als richtig anerkannt und damit zugestanden, den am 20. März 1999 eingezogenen Nachnahmebetrag für sich verwendet zu haben, entband das Verwaltungsgericht nicht davon, Feststellungen zur Schuldform zu treffen, zumal der Beamte im gesamten bisherigen Verfahren ein vorsätzliches Verhalten nicht eingeräumt hat. Im Strafverfahren hat er sich dahin eingelassen, er könne sich an Einzelheiten nicht mehr erinnern. Er habe die Beträge jedenfalls nicht bewusst unterschlagen. Dies sei in der Zeit seiner größten Alkoholprobleme gewesen (St 187, 188). Im Vorermittlungsverfahren hat er, nachdem er sich zuvor auf Erinnerungslücken berufen hatte (V I 49 f.), ausgesagt, die fünf Nachnahmebeträge nicht wissentlich unterschlagen zu haben, um sich finanziell zu bereichern. Er räume allerdings ein, dass er sich die fünf Beträge angeeignet und nicht mit der Postkasse verrechnet habe. Wie er die Gelder verwendet habe, wisse er nicht mehr. Er führe sein Verhalten auf seine Alkoholsucht zurück (V I 87). Im Untersuchungsverfahren hat er auf diese Aussage verwiesen und weiter ausgeführt, zum Schluss habe er das dienstliche Geld und Privatgeld nicht mehr getrennt (U 42). Zu den Feststellungen im Strafbefehl wolle er keine Aussage machen (U 43). Schließlich hat der Beamte in der Hauptverhandlung vor dem Verwaltungsgericht bekundet, er habe an die Nachnahmen keine konkrete Erinnerung und wisse nicht mehr, was er da gemacht habe (D 66). Er habe keine Postbrieftasche und auch kein Wechselgeld gehabt. Wenn er Geld habe herausgeben müssen, habe er dies mit seinem Privatgeld getan, da sonst der Empfänger die Nachnahmesendung bei der Poststelle hätte abholen müssen. Er habe das Geld "nicht in die eigene Tasche" (stecken) wollen. Er wisse nicht, was er damit gemacht habe. Angesichts dieser Aussagen des Beamten hätte das Verwaltungsgericht besondere Veranlassung gehabt, Ausführungen zur Schuldform und zum Zueignungswillen zu machen. Die Feststellung verminderter Schuldfähigkeit, die lediglich eine Zumessungserwägung darstellt, ersetzt nicht die Feststellung der Schuldform.
Für die Annahme eines Zugriffsdelikts, das grundsätzlich die disziplinare Höchstmaßnahme nach sich zieht und hiervon nur beim Vorliegen bestimmter, von der Rechtsprechung entwickelter Milderungsgründe abgesehen werden kann, bedarf es für die Feststellung eines Zueignungswillens, ob sich ein Beamter also dienstliche Gelder für die private Verwendung zugeeignet hat oder zueignen wollte, einer ausreichenden Tatsachengrundlage (vgl. Urteil vom 11. November 2003 - BVerwG 1 D 5.03 - m.w.N.). An die rechtliche Würdigung, ob ein Zugriffsdelikt vorgelegen hat oder nicht, ist das Berufungsgericht zwar nicht gebunden. Es müssen jedoch Feststellungen zum Zueignungswillen und zur Verwendung der dienstlichen Gelder vorliegen, die überhaupt einen Schluss auf ein Zugriffsdelikt zulassen. Andernfalls ist bei einer auf die Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung die Überprüfung eines angefochtenen Urteils nicht möglich (zur Abgrenzung einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Inanspruchnahme dienstlich anvertrauten Geldes vgl. noch Urteile vom 11. Dezember 2001 - BVerwG 1 D 2.01 - und vom 13. Juni 2001 - BVerwG 1 D 35.00 -).
Das erstinstanzliche Verfahren leidet unter einem weiteren Mangel, der für sich allein jedoch vom Senat geheilt werden könnte und nicht zur Zurückverweisung zwänge. Im Untersuchungsverfahren wurde ein Sachverständigengutachten eingeholt, das vom Verwaltungsgericht verwertet wurde. Eine solche Verwertung setzt wegen des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 2, § 250 StPO i.V.m. § 25 BDO) im Regelfall eine mündliche Anhörung des Sachverständigen voraus. Die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Verlesung des schriftlichen Gutachtens wäre nur dann ausreichend und damit zulässig gewesen, wenn es sich um ein Behördengutachten im Sinne des § 256 Abs. 1 StPO i.V.m. § 25 BDO gehandelt hätte. Dies ist hier aber nicht der Fall, da der Sachverständige als Privatperson beauftragt worden war und anschließend auch privat liquidiert hatte (stRspr des Senats - vgl. Urteil vom 26. Februar 2004 - BVerwG 1 D 3.03 - m.w.N.). Da der Untersuchungsführer den Gutachter zur Erläuterung seines Gutachtens nicht vernommen hatte, hätte das Verwaltungsgericht die Anhörung nachholen müssen.
Die Kostenentscheidung ist dem Verwaltungsgericht auch für das Berufungsverfahren vorzubehalten, weil erst seine erneute Entscheidung zeigen wird, ob und inwieweit die Berufung der Einleitungsbehörde in der Sache Erfolg hat.