Beschluss vom 17.07.2003 -
BVerwG 4 B 55.03ECLI:DE:BVerwG:2003:170703B4B55.03.0

Beschluss

BVerwG 4 B 55.03

  • OVG Rheinland-Pfalz - 16.04.2003 - AZ: OVG 8 A 11903/02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Juli 2003
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. L e m m e l , Prof. Dr. R o j a h n und G a t z
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. April 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Die auf § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich kein Grund für eine Zulassung der Revision.
1. Die erhobene Divergenzrüge ist unzulässig. Nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist die Revision nur zuzulassen, wenn das angegriffene Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine derartige Entscheidungsdivergenz macht die Beschwerde nicht geltend. Sie rügt einen inhaltlichen Widerspruch zwischen dem angegriffenen Berufungsurteil einerseits und dem Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 15. Februar 2002 (8 U 461/01) und dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 2002 (V ZR 99/02) andererseits. Die Abweichung von der Rechtsprechung eines anderen obersten Bundesgerichts oder eines Oberlandesgerichts stellt nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut keinen selbständigen Revisionszulassungsgrund dar. Im Übrigen setzt der Zulassungsgrund der Divergenz einen Widerspruch zwischen zwei abstrakt formulierten und entscheidungstragenden Rechtssätzen voraus. Einen solchen Widerspruch legt die Beschwerde nicht dar. Sie rügt, dass das Berufungsgericht und das Oberlandesgericht Koblenz die Zumutbarkeit der Lärmimmissionen, die mit den Live-Musik-Veranstaltungen in der vom Beigeladenen betriebenen Sängerhalle verbunden sind, unterschiedlich bewertet haben. Die Beschwerde macht damit keine Divergenz in einer abstrakten Rechtsfrage geltend. Sie rügt vielmehr, dass zwei Gerichte bei der Würdigung desselben Sachverhalts und der Rechtsanwendung zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt sind. Dieses Vorbringen vermag eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht zu begründen und gibt keinen Anlass zu weiteren Ausführungen.
2. Die Rechtssache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Beigeladene beimisst.
2.1 Das Berufungsgericht hat entschieden, der Beigeladene könne sich hinsichtlich der vom Kläger beanstandeten Nutzung nicht auf baurechtlichen Bestandsschutz berufen, weil der dem Beigeladenen obliegende Nachweis für die Erteilung einer Baugenehmigung, die auch die umstrittene Nutzung legalisiere, nicht geführt worden sei (UA S. 9, 14). Der Beigeladene ist der Ansicht, dass die Unerweislichkeit des Vorliegens einer Baugenehmigung zu Lasten des Klägers oder des Beklagten, jedoch nicht zu seinen Lasten gehen dürfe. Die Beschwerde möchte deshalb grundsätzlich geklärt wissen, wem im Falle der Klage eines Drittbetroffenen die Beweislast für das Vorliegen einer Baugenehmigung obliegt.
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie ist, soweit sie sich überhaupt in verallgemeinerungsfähiger Weise klären lässt, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Die Unerweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter ihm günstige Rechtsfolgen herleitet, geht grundsätzlich zu seinen Lasten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. November 1993 - BVerwG 7 B 190.93 - NJW 1994, 468; Beschluss vom 3. August 1988 - BVerwG 9 B 257.88 - Buchholz 412.6 § 1 HHG Nr. 28; Beschluss vom 19. Februar 1988 - BVerwG 4 B 33.88 - im Anschluss an das Urteil vom 23. Februar 1979 - BVerwG 4 C 86.76 - Buchholz 406.16 Nr. 13 = BRS 35 Nr. 206 m.w.N.). Vorliegend käme der Nachweis einer Baugenehmigung, welche die Live-Musik-Veranstaltungen in der Sängerhalle des Beigeladenen legalisierte, dem Beigeladenen zugute, da eine derartige Nutzungsgenehmigung im Rahmen des vom Gebot der Rücksichtnahme geforderten Interessenausgleichs für den Kläger schutzmindernd als Vorbelastung in Ansatz gebracht werden könnte. Die Folgen der Ungewissheit der Erteilung einer solchen Baugenehmigung muss der Beigeladene daher gegen sich gelten lassen. Es bedarf nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, um diese Rechtsfolge festzustellen.
2.2 Die Beschwerde wirft die Rechtsfrage auf, ob es der Verwaltungsgerichtsbarkeit verwehrt ist, dass nachbarrechtliche Gebot der Rücksichtnahme erneut zu prüfen, wenn dies bereits umfassend in einem den gleichen tatsächlichen Lebenssachverhalt betreffenden zivilrechtlichen Verfahren erfolgt ist. In dieser weiten Formulierung wäre die Frage in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Wird die aufgeworfene Frage auf eine Fallkonstellation beschränkt, wie sie hier besteht, führt sie nicht zu einem grundsätzlichen Klärungsbedarf. Entgegen der Beschwerde hat das Berufungsgericht die Rechtskraft des Urteils des Oberlandesgerichts Koblenz vom 15. Februar 2002 nicht "durchbrochen". Dem Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz, das mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 2002 rechtskräftig geworden ist, und der hier angegriffenen Entscheidung des Berufungsgerichts vom 16. April 2003 liegen unterschiedliche prozessuale Ansprüche (Streitgegenstände) zugrunde. Das Oberlandesgericht Koblenz hatte über einen vom Kläger auf die §§ 1004, 906 BGB gestützten und gegen den Beigeladenen (in jenem Verfahren: Beklagter) gerichteten Anspruch auf Unterlassung der Lärmeinwirkungen zu entscheiden. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hatte zu entscheiden, ob der Kläger vom beklagten Landkreis ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen Live-Musik-Veranstaltungen in der vom Beigeladenen betriebenen Halle beanspruchen kann. Als betroffener Nachbar blieb es dem Kläger unbenommen, Rechtsschutz auf dem Zivilrechtsweg und dem Verwaltungsrechtsweg zu suchen. Eröffnet die Rechtsordnung mehrere Rechtswege zur Verfolgung eines Rechtsschutzziels (Schutz vor Lärmimmissionen), kann nicht ausgeschlossen werden, dass die jeweils angerufenen Gerichte die Zumutbarkeitsschwelle bei Lärmimmissionen, für die - wie hier hinsichtlich der Live-Musik-Veranstaltungen - rechtsverbindliche, für das private und das öffentliche Recht gleichermaßen geltende Immissionsgrenzwerte zum Schutz des Nachbareigentums nicht bestehen, unterschiedlich bestimmen.
2.3 Das Berufungsgericht hat im vorliegenden Fall die vom Länderausschuss für Immissionsschutz (LAI) im Jahr 1995 verabschiedete Freizeitlärm-Richtlinie (NVwZ 1997, 469) als Orientierungshilfe herangezogen, um die Zumutbarkeitsgrenze hinsichtlich der Lärmimmissionen (Live-Musik-Veranstaltungen) zu bestimmen. Die Beschwerde wirft hierzu als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf, ob ein maßvolles Überschreiten der Lärmwerte der LAI-Freizeitlärm-Richtlinie bei zwei Veranstaltungen im Kalenderjahr noch hinzunehmen sei. Daran knüpft die Beschwerde die weitere Frage, ob "in der Vergangenheit tradierte Nutzungen einer Halle für zeitgenössische, jugendliches Publikum im ländlichen Bereich betreffende Veranstaltungen" fortgesetzt werden dürften, wenn die Werte der Freizeitlärm-Richtlinie maßvoll überschritten würden. Auch damit zeigt die Beschwerde keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf auf.
Solange für die Ermittlung und Bewertung der auf Wohngrundstücke einwirkenden Geräusche rechtlich keine bestimmten Mess- und Berechnungsverfahren sowie Lärmwerte vorgegeben sind, bleibt es der tatrichterlichen Würdigung vorbehalten, unter Berücksichtigung der einzelnen Schallereignisse, ihres Schallpegels und ihrer Eigenart (Dauer, Häufigkeit, Impulshaltigkeit) und ihres Zusammenwirkens die Erheblichkeit der Lärmbelästigung zu beurteilen. Die Zumutbarkeitsgrenze ist aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls und insbesondere der speziellen Schutzwürdigkeit des jeweiligen Baugebiets zu bestimmen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht für den Bereich der Lärmbelastungen - ebenso wie für Geruchs- oder Abgasbelastungen - wiederholt ausgesprochen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 1994 - BVerwG 4 B 16.94 - NVwZ-RR 1995, 6; Urteil vom 24. April 1991 - BVerwG 7 C 12.90 - BVerwGE 88, 143 <148 f.>, m.w.N.). In diesem Zusammenhang können auch technische Regelwerke zur Beurteilung von Lärmimmissionen herangezogen werden, wenn sie für die Beurteilung der Erheblichkeit der Lärmbelästigung im konkreten Streitfall brauchbare Anhaltspunkte liefern (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 1988 - BVerwG 7 C 33.87 - BVerwGE 79, 254 <264 f.>). Geklärt ist ferner, dass technische Regelwerke dieser Art im Rahmen der gebotenen Einzelfallprüfung nur eine Orientierungshilfe oder einen "groben Anhalt" bieten. Unzulässig ist in jedem Falle eine nur schematische Anwendung bestimmter Mittelungs- oder Grenzwerte (BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 1994, a.a.O.). Zu den Regelwerken, die als Orientierungshilfe in Betracht kommen, gehören auch die vom Länderausschuss für Immissionsschutz verabschiedeten und mehrfach fortgeschriebenen "Hinweise zur Beurteilung der durch Freizeitanlagen verursachten Geräusche" (NVwZ 1985, 98; 1988, 135), die im Jahr 1995 als "Freizeitlärm-Richtlinie" verabschiedet worden ist (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 24. April 1991, a.a.O., S. 149).
Die Beschwerde legt nicht dar, dass der vorliegende Streitfall dem beschließenden Senat in einem Revisionsverfahren Gelegenheit böte, die vorgenannte Rechtsprechung allgemeingültig fortzuentwickeln, zu konkretisieren oder zu korrigieren. Die von der Beschwerde aufge-
worfenen Rechtsfragen zielen auf eine Kritik der vorinstanzlichen Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall. Die von ihr formulierten Fragen lassen sich auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch nur im Rahmen der gebotenen Einzelfallprüfung beantworten.
Rechtsfragen nach der Anwendbarkeit der TA-Lärm, wie sie die Beschwerde aufwirft, wären in einem Revisionsverfahren nicht klärungsbedürftig, da sie nach den Urteilsgründen des Berufungsgerichts nicht entscheidungserheblich sind.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.