Beschluss vom 16.06.2011 -
BVerwG 1 B 11.11ECLI:DE:BVerwG:2011:160611B1B11.11.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 16.06.2011 - 1 B 11.11 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:160611B1B11.11.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 11.11

  • Schleswig-Holsteinisches OVG - 03.05.2011 - AZ: OVG 4 LB 4/11

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Juni 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:

  1. Der Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
  2. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. Mai 2011 wird verworfen.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO).

2 Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet. Seine Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil wurde wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist des § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO als unzulässig verworfen. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wendet er sich mit seiner Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Die auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und das Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

3 1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufgeworfen wird, die im Interesse der Einheit oder Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Darlegung einer solchen Rechtsfrage lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Der Kläger wirft die Frage der Verfassungsmäßigkeit der in § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO normierten Begründungsfrist auf und meint, es sei eine verfassungskonforme Auslegung dahin vorzunehmen, dass die Fristregelung dann nicht gilt, wenn - wie hier - bereits im Zulassungsverfahren ein Verstoß gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gerügt worden sei, weil es sich hierbei um höherrangiges Recht handele (Beschwerdebegründung S. 3).

4 Die Beschwerde legt nicht dar, dass für die aufgeworfene Frage Klärungsbedarf besteht. Vielmehr ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits rechtsgrundsätzlich geklärt, dass größte Zurückhaltung geboten ist, aus einzelnen materiellen Grundrechten und Gewährleistungen besondere, von den allgemeinen Verfahrensordnungen des gerichtlichen Verfahrens abweichende Regelungen für die gerichtliche Durchsetzung dieser Grundrechte und Gewährleistungen herzuleiten. Nach dieser Rechtsprechung können aus materiellen Grundrechten konkrete normative Folgerungen für die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrensrechts über die Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und die Verfahrensgrundrechte hinaus nur unter besonderen Umständen und nur dann gezogen werden, wenn sich unzweideutig ergibt, dass andernfalls rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse hinreichenden Rechtsschutzes nicht mehr gewahrt wären (BVerfG, Beschluss vom 20. April 1982 - 2 BvL 26/81 - BVerfGE 60, 253 <298>). Dass in Fällen, in denen es im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch um die Gewährleistung des nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gebotenen Schutzes geht, nur ein Verzicht auf die Monatsfrist für die Begründung einer Berufung den rechtsstaatlich unverzichtbaren Erfordernissen hinreichenden Rechtsschutzes gerecht wird, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen. Damit wird nicht aufgezeigt, dass über die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtsgrundsätze hinaus weitergehender Klärungsbedarf besteht.

5 2. Auch eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz wird nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt. Dazu ist erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz nennt, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten Rechtssatz abweicht.

6 a) Der Kläger meint, das Berufungsgericht weiche von dem Beschluss des 9. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. August 1997 - BVerwG 9 B 690.97 - (DVBl 1997, 1325) ab (Beschwerdebegründung S. 4). Damit ist ein vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellter Rechtssatz, der eine Divergenz begründen könnte, schon deshalb nicht aufgezeigt, weil der 9. Senat mit Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - (BVerwGE 107, 117 <121>) die in dem früheren Beschluss vertretene Auffassung ausdrücklich aufgegeben hat. Danach genügt es nicht, wenn sich die Berufungsbegründung und der Berufungsantrag dem Vorbringen im Zulassungsverfahren entnehmen lassen. Vielmehr muss der Rechtsmittelführer in jedem Fall nach Zulassung der Berufung einen Schriftsatz einreichen. Dies entspricht auch der derzeitigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO (vgl. Urteil vom 7. Januar 2008 - BVerwG 1 C 27.06 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 36 Rn. 11 f. m.w.N. und Beschluss vom 19. Oktober 2009 - BVerwG 2 B 51.09 - juris).

7 b) Eine weitere Abweichung versucht die Beschwerde aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Juli 2004 - IV ZR 140/03 - (NJW 2004, 2981) abzuleiten (Beschwerdebegründung S. 4). Sie zitiert den darin enthaltenen Rechtssatz, wonach die aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde zugelassene Revision nicht erst innerhalb der mit Zustellung des Zulassungsbeschlusses in Lauf gesetzten Revisionsbegründungsfrist (durch Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde oder durch davon unabhängige, auch zusätzliche Ausführungen) begründet werden muss. Vielmehr könne eine den Anforderungen des § 551 Abs. 3 Satz 1 ZPO genügende Revisionsbegründung auch schon vor Beginn der Revisionsbegründungsfrist z.B. in dem Schriftsatz gegeben werden, mit dem die Nichtzulassungsbeschwerde begründet wird. Hiermit legt die Beschwerde eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO schon deshalb nicht dar, weil der Bundesgerichtshof nicht zu den in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichten gehört. Im Übrigen liegt auch keine Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor. Der Senat hat bereits im oben zitierten Urteil vom 7. Januar 2008 - BVerwG 1 C 27.06  - (a.a.O. Rn. 13) darauf hingewiesen, dass die maßgeblichen prozessrechtlichen Vorschriften nicht inhaltsgleich sind. So ist § 551 Abs. 2 Satz 1 ZPO, der die Einreichung der Revisionsbegründung betrifft, offener ausgestaltet als § 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO. Zudem gilt im Zivilprozessrecht die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde im Falle der Stattgabe als Einlegung der Revision (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO), so dass sich die Argumentation des Bundesgerichtshofs nicht ohne Weiteres auf das Verwaltungsprozessrecht übertragen lässt. Schließlich hat sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs inzwischen geändert. Nach einer neueren Entscheidung des III. Zivilsenats ist nämlich auch im Zivilprozess nach Zulassung der Revision in jedem Fall eine gesonderte Revisionsbegründung erforderlich (Beschluss vom 20. Dezember 2007 - III ZR 27/06 - NJW 2008, 588). Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hält danach an seiner gegenteiligen Ansicht nicht mehr fest. Deshalb kam insoweit auch eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nicht in Betracht.

8 c) Eine dritte Divergenz sieht die Beschwerde im Verhältnis zu einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 1980 - 1 BvR 277/78 - (BVerfGE 53, 219 <222>). Die Beschwerde zitiert daraus den Rechtssatz, dass das Gericht nach Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ist, die Ausführungen der Prozessparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (Beschwerdebegründung S. 4 f.). Sie legt aber nicht dar, dass das Berufungsgericht insoweit einen abweichenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat. Mit ihrer Rüge, das Gericht habe im konkreten Einzelfall gegen diesen Rechtssatz verstoßen, weil es den Sachvortrag des Klägers im Berufungszulassungsverfahren nicht hinreichend berücksichtigt habe, kann sie die Zulassung einer Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht erreichen. Im Übrigen ist mit diesem Vorbringen auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers nicht aufgezeigt. Denn Art. 103 Abs. 1 GG soll sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht. Er gewährt aber keinen Schutz dagegen, dass das Gericht den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt lässt (BVerfG, Beschluss vom 8. November 1978 - 1 BvR 158/78 - BVerfGE 50, 32 <35>), wie es hier das Berufungsgericht wegen der Unzulässigkeit der Berufung getan hat.

9 3. Soweit die Beschwerde im Übrigen einen Verfahrensmangel aufgrund der fehlenden Beiziehung eines Dolmetschers durch das erstinstanzliche Gericht rügt (Beschwerdebegründung S. 5 f.), fehlt es ebenfalls an den gebotenen Darlegungsanforderungen für die Zulassung einer Revision. Denn der Kläger hat nicht aufgezeigt, dass die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann, wie das § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO fordert. Verfahrensverstöße des Verwaltungsgerichts sind für die Revisionszulassung nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nur von Bedeutung, wenn sie in der Berufungsinstanz fortwirken (Beschluss vom 30. Juli 1990 - BVerwG 7 B 104.90 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 289). Die Verwerfung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht nach § 125 Abs. 2 Satz 1 VwGO beruht auf der Nichteinhaltung der Berufungsbegründungsfrist nach § 124a Abs. 6 VwGO. Es ist weder von der Beschwerde aufgezeigt noch sonst ersichtlich, dass sich die fehlende Beiziehung eines Dolmetschers auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist durch den anwaltlich vertretenen Kläger ausgewirkt haben kann.

10 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.