Beschluss vom 15.10.2008 -
BVerwG 20 F 1.08ECLI:DE:BVerwG:2008:151008B20F1.08.0

Beschluss

BVerwG 20 F 1.08

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 21.12.2007 - AZ: OVG 13a F 27/07

In der Verwaltungsstreitsache hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts
für Entscheidungen nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 15. Oktober 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kugele und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 2007 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts entschieden, dass die auf Bestimmungen des Umweltinformationsgesetzes gestützte Verweigerung der Vorlage ungeschwärzter Verwaltungsvorgänge durch die Beklagte - derzeit - rechtswidrig ist.

2 1. Es ist nicht zu beanstanden, dass der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts den Antrag der Klägerin gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO als statthaft angesehen hat, obwohl die Beklagte keine förmliche Sperrerklärung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO abgegeben hat.

3 1.1 Hat das Gericht der Hauptsache die Vorlage der Akten als entscheidungserheblich angesehen, setzt die Statthaftigkeit des Antrags eines Beteiligten gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO keine förmliche Sperrerklärung voraus. Es genügt, wenn die oberste Aufsichtsbehörde sich - wie hier - unmissverständlich weigert, der vom Hauptsachegericht geforderten (ungeschwärzten) Vorlage der Akten nachzukommen. Im vorliegenden Fall ist die informationspflichtige Stelle, bei der die Klägerin den Antrag auf Informationszugang gestellt hat, zugleich oberste Aufsichtsbehörde i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. In dieser Eigenschaft hat sich die Beklagte gegenüber dem Gericht der Hauptsache geweigert, den Verwaltungsvorgang, auf den sich der geltend gemachte Informationsanspruch bezieht, ungeschwärzt vorzulegen. Auf welche Gründe sie sich dabei stützt, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass sie sich eindeutig und unmissverständlich geweigert hat, die erbetenen Akten (vollständig) vorzulegen. Das hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zutreffend erkannt und zu Recht darauf hingewiesen, dass die zuständige Behörde es andernfalls in der Hand hätte, dem Gericht ohne die Möglichkeit der Überprüfung im Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO entscheidungserhebliche Unterlagen vorzuenthalten.

4 Mit seinem Beschluss vom 16. März 2007 hat das Verwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache zum Ausdruck gebracht, dass es die Vorlage der Akten als entscheidungserheblich ansieht. Dass das Verwaltungsgericht nach Vorlage der - ausdrücklich auf § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 3 UIG gestützten - teilweise geschwärzten Akten seitens der Beklagten mit Schriftsatz vom 13. Juli 2007 keinen weiteren Beschluss gefasst hat, um eine förmliche Verweigerungsentscheidung der Beklagten herbeizuführen, ist nicht zu beanstanden. Denn mit dem Hinweis in dem Beschluss vom 16. März 2007 auf § 99 Abs. 1 VwGO und der Bitte um Klarstellung zum Rechtsgrund für die Verweigerung hat das Verwaltungsgericht hinreichend deutlich gemacht, dass eine Vorlage teilweise geschwärzter Akten nicht genügt, sondern es der Vorlage aller (ungeschwärzter) Aktenbestandteile bedarf.

5 Abgesehen davon ist ein Beschluss des Gerichts der Hauptsache über die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage ausnahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Unterlagen zweifelsfrei rechtserheblich sind (Beschluss vom 24. November 2003 - BVerwG 20 F 13.03 - BVerwGE 119, 229). Das ist immer dann der Fall, wenn - wie hier - die Pflicht zur Vorlage der Behördenakten Streitgegenstand des Verfahrens zur Hauptsache ist und die Entscheidung des Verfahrens zur Hauptsache von der allein anhand des Inhalts der umstrittenen Akten zu beantwortenden Frage abhängt, ob die Akten bzw. Aktenteile, wie von der Behörde geltend gemacht, geheimhaltungsbedürftig sind (Beschluss vom 4. Mai 2006 - BVerwG 20 F 2.05 - juris). Entgegen der Auffassung der Beschwerde gilt das nicht nur für die Frage, ob Ablehnungsgründe vorliegen, sondern auch für die Frage, ob der Anwendungsbereich, auf den der Informationszugangsanspruch gestützt wird, eröffnet ist.

6 1.2 Für die Entscheidung im Zwischenverfahren ist nicht das Gericht der Hauptsache, sondern ein besonderer Spruchkörper, nämlich der nach § 189 VwGO eingerichtete Fachsenat zuständig. Dieser entscheidet gemäß § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO (nur) darüber, ob die Verweigerung der Aktenvorlage durch die oberste Aufsichtsbehörde rechtmäßig ist oder nicht. Im Zwischenverfahren gemäß § 99 Abs. 2 VwGO geht es mithin allein um die Frage der Vorlage der Akten im Prozess.

7 Wie der beschließende Senat bereits mit Beschlüssen vom 21. Februar 2008 - BVerwG 20 F 2.07 - (NVwZ 2008, 554 = DVBl 2008, 655 = DÖV 2008, 510; zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen) und - BVerwG 20 F 3.07 - (juris) klargestellt hat, gilt dies auch dann, wenn - wie hier - die Vorlage der Akten selbst Gegenstand des Rechtsstreits ist, weil derartige Fälle von der Geltung des § 99 Abs. 2 VwGO nicht ausgenommen sind. Die gegenwärtige Fassung des § 99 Abs. 2 VwGO geht auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 1999 - 1 BvR 385/90 - (BVerfGE 101, 106) zurück, in der dieses zum Schutz des Grundrechts des Klägers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verlangt hatte, dass die Verweigerung der Aktenvorlage in einem „in-camera“-Verfahren vom Gericht überprüft werde; in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Klageverfahren ging es ebenfalls um ein Auskunftsbegehren. Zwar kann in derartigen Streitverfahren die Entscheidung im Zwischenverfahren, sofern sie zugunsten der Aktenvorlage ausfällt, faktisch zur Erfüllung des im Hauptsacheverfahren in Streit stehenden Anspruchs führen, weil mit der Vorlage der Akten an das Gericht der Hauptsache stets das Recht der Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht gemäß § 100 VwGO entsteht. Doch hat der Gesetzgeber diese Möglichkeit als unvermeidbare Folge des Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO in Kauf genommen. Er hätte ihr nur dadurch entgegenwirken können, dass er die Entscheidung „in-camera“ über das Zwischenverfahren hinaus auf den Rechtsstreit in der Hauptsache erstreckt hätte. Dieses Verfahrensmodell, bei dem das Gericht der Hauptsache die Akten ohne das Recht der Beteiligten zur Einsichtnahme für seine Entscheidung verwerten darf, ist jedoch in § 99 Abs. 2 VwGO nicht verwirklicht worden (Beschlüsse vom 15. August 2003 - BVerwG 20 F 8.03 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 34 und vom 9. Januar 2007 - BVerwG 20 F 1.06 - BVerwGE 127, 282 <291>).

8 Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Vertreters des Bundesinteresses stellen die im Umweltinformationsgesetz und Informationsfreiheitsgesetz normierten Ablehnungsgründe keine Spezialregelung gegenüber § 99 VwGO dar. Der Vorstellung, § 99 Abs. 2 VwGO komme nur dann zur Anwendung, wenn die Verweigerung der Aktenvorlage ausdrücklich auf die in Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift genannten Gründe gestützt werde, liegt ein Fehlverständnis der Regelungssystematik des § 99 VwGO zugrunde. § 99 Abs. 2 VwGO stellt seinerseits eine prozessrechtliche Spezialnorm dar. Der Gesetzgeber kann zwar - im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenzen - fachgesetzliche Sonderregelungen schaffen. Verzichtet er aber darauf, mit einer speziellen Regelung auf den Umstand zu reagieren, dass die Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage faktisch zur Erfüllung des im Hauptsacheverfahren in Streit stehenden Anspruchs führen kann, weil - wie im vorliegenden Fall - das Einsichts- bzw. Informationszugangsrecht selbst den Streitgegenstand bildet, bleibt es bei der Konzentration der Entscheidungszuständigkeit beim Fachsenat. Das verkennt die Beklagte, wenn sie meint, § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO werde durch die fachgesetzlichen Ablehnungsgründe nach dem Umweltinformationsgesetz und Informationsfreiheitsgesetz „modifiziert“ und in einem „Umkehrschluss“ aus der Gesetzesbegründung folgert, dass ein „in-camera“-Verfahren dann nicht in Betracht komme, wenn sich die Behörde nicht auf § 99 Abs. 1 VwGO, sondern (nur) auf die fachgesetzlichen Ablehnungsgründe berufe. Anhaltspunkte für einen solchen Umkehrschluss vermag der Senat nicht zu erkennen. Vielmehr geht der Gesetzgeber - ausweislich der von der Beklagten in Bezug genommenen Begründung des Gesetzesentwurfs, wenn auch dort nur der Fall des § 3 Nr. 4 IFG genannt wird, - von einer Anwendbarkeit des § 99 Abs. 1 und 2 VwGO aus (BTDrucks 15/4493 S. 16). Dass der Gesetzgeber - wie der Vertreter des Bundesinteresses vorträgt - die Frage des Verhältnisses von § 99 VwGO zu den fachgesetzlich normierten Ablehnungsgründen „gesehen hat“, ändert nichts an dem Umstand, dass er auf die Normierung einer die Anwendbarkeit des § 99 Abs. 2 VwGO verdrängenden Sonderregelung verzichtet hat. Ob die vom Vertreter des Bundesinteresses vorgelegte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main im Lichte des § 99 VwGO Bestand hätte, hat der Senat nicht zu entscheiden.

9 2. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass die Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage eine Ermessensausübung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO voraussetzt. Der Fachsenat und damit auch das Beschwerdegericht haben nur zu überprüfen, ob die Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage den an die Ermessensausübung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestellten Anforderungen genügt.

10 Eine solche Ermessensentscheidung hat die Beklagte bislang nicht getroffen. Bereits aus diesem Grund ist die Weigerung der Beklagten, die begehrten Akten ungeschwärzt vorzulegen, rechtswidrig. Zutreffend hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts auch darauf hingewiesen, dass die gerichtliche Feststellung die Beklagte nicht hindert, unter Ausübung ihres Ermessens eine Entscheidung über die Verweigerung zu treffen und eine (förmliche) Sperrerklärung abzugeben. In diesem Fall wird die Beklagte die in den Beschlüssen vom 21. Februar 2008 - BVerwG 20 F 2.07 und BVerwG 20 F 3.07 - (a.a.O. Rn. 18 ff.) aufgezeigten Maßstäbe bei der Ermessensausübung i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu beachten haben.

11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für dieses Zwischenverfahren folgt aus § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 GKG.