Beschluss vom 15.07.2002 -
BVerwG 1 DB 9.02ECLI:DE:BVerwG:2002:150702B1DB9.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 15.07.2002 - 1 DB 9.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:150702B1DB9.02.0]

Beschluss

BVerwG 1 DB 9.02

In dem Verfahren hat der 1. Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Juli 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
A l b e r s , die Richterin am Bundesverwaltungsgericht
H e e r e n und den Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

Auf die Beschwerde des Antragstellers werden der Beschluss des Bundesdisziplinargerichts, Kammer VI - ... -, vom 18. Februar 2002 und die Einleitungsverfügung des Präsidenten des Grenzschutzpräsidiums ... vom 4. Februar 2000 insoweit aufgehoben, als darin gemäß § 92 BDO die Einbehaltung von 50 v.H. der dem Antragsteller zustehenden Dienstbezüge angeordnet wird.

I


1. Der Präsident des Grenzschutzpräsidiums ... ordnete mit Verfügung vom 4. Februar 2000 die Einleitung eines förmlichen Disziplinarverfahrens gegen den Antragsteller an, enthob ihn zugleich vorläufig des Dienstes und ordnete die Einbehaltung von 50 vom Hundert seiner Bezüge gemäß § 92 BDO an. Die Einleitungsverfügung legt dem Antragsteller zur Last, in der Zeit vom 7. April bis zum 26. August 1999 sowie am 20. Oktober 1999 ab ca. 10 Uhr bis Dienstende und am 21. Oktober 1999 ganztägig dem Dienst schuldhaft ungenehmigt ferngeblieben zu sein und am 18. Oktober 1999 versucht zu haben, den Leitenden Arzt des Grenzschutzpräsidiums ..., Dr. H., tätlich anzugreifen, indem er mit einem Stuhl einen Schlag in Richtung auf den Arzt ausführte, der allerdings, weil dieser ausweichen konnte, lediglich die Glasplatte des Schreibtischs und den Stuhl zerstörte. Die Rechtmäßigkeit der nach § 92 BDO angeordneten Einbehaltung von 50 vom Hundert der Bezüge wurde vom Bundesdisziplinargericht mit Beschluss vom 31. Mai 2000 (VI BK 8/00) bestätigt. Dieser Beschluss wurde rechtskräftig.
Der Angriff auf Dr. H. führte zu einem Strafverfahren, in dem der Antragsteller vom Amtsgericht ... am 24. September 2001 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 50 DM verurteilt wurde. In der Berufungsinstanz wurde das Strafverfahren durch Beschluss des Landgerichts ... vom 13. Februar 2002 <(577) Nr. ...> endgültig eingestellt, nachdem es bereits am 25. Januar 2002 nach § 153 a Abs. 2 StPO vorläufig unter dem Vorbehalt der Erfüllung einer Auflage eingestellt worden war.
2. Unter dem 23. November 2001 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers den Antrag gestellt, die Einbehaltung der Bezüge des Antragstellers aufzuheben, weil eine Entlassung des Beamten aus dem Beamtenverhältnis nicht mehr in Betracht komme. Das Amtsgericht ... habe in seinem Urteil vom 24. September 2001 festgestellt, dass der Antragsteller bei seinem Angriff auf Dr. H. in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt gewesen sei. Im Hinblick auf die geringe Schuld des Antragstellers sei die Kürzung seiner Dienstbezüge nicht angemessen.
3. Das Bundesdisziplinargericht hat mit Beschluss vom 18. Februar 2002 die angeordnete Einbehaltung der Dienstbezüge aufrechterhalten und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Über die grundsätzliche Zulässigkeit der Anordnungen nach den §§ 91, 92 BDO habe das Gericht bereits mit Beschluss vom 31. Mai 2000 entschieden. Darauf werde verwiesen. Eine Änderung in tatsächlicher Hinsicht sei lediglich dadurch eingetreten, dass dem Antragsteller für seinen Angriff auf Dr. H. erheblich verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB zugebilligt worden sei. Dieser Gesichtspunkt rechtfertige jedoch nicht die Annahme, dass das gegen den Antragsteller eingeleitete Disziplinarverfahren nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Dienstentfernung führen werde. Sodann verweist das Gericht auf seinen Beschluss vom 31. Mai 2000 und zitiert aus dessen Begründung. Diese Begründung werde durch das Urteil des Amtsgerichts ... vom 24. September 2001 nicht in Frage gestellt. Tatsächlich habe das Amtsgericht ... dem Antragsteller nicht Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB bescheinigt und ihn wegen des Angriffs auf Dr. H. verurteilt. Der Vorwurf, über mehr als vier Monate schuldhaft ungenehmigt dem Dienst ferngeblieben zu sein, werde durch das Strafurteil ebenfalls nicht in Frage gestellt. Selbst erheblich verminderte Schuldfähigkeit könne bei einer so grundlegenden und über einen so langen Zeitraum verletzten Beamtenpflicht, wenn sich die Vorwürfe in der Untersuchung bestätigten, nicht das Absehen von der disziplinaren Höchstmaßnahme rechtfertigen. Die Höhe der gegenwärtigen Einbehaltung von Teilen seiner Dienstbezüge habe der Antragsteller nicht angegriffen.
4. Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt und diese im Wesentlichen wie folgt begründet: Das Strafverfahren sei endgültig eingestellt worden, nachdem er eine vom Landgericht ... festgesetzte Auflage erfüllt habe. Ganz offenkundig habe das Landgericht im Berufungsverfahren gesehen, dass eine Verurteilung nicht in Frage komme, und habe daher die Beendigung des Verfahrens auf diese Weise angeregt. Aus den weiteren im Disziplinarverfahren eingereichten Schriftstücken ergebe sich, dass eine Entfernung aus dem Dienst nicht erfolgen werde.

II


Die nach § 121 Abs. 5 BDO zulässige Beschwerde ist begründet. Die unter dem 4. Februar 2000 verfügte Einbehaltung der Dienstbezüge des Antragstellers in Höhe von 50 vom Hundert gemäß § 92 BDO erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.
Nach § 92 Abs. 1 BDO kann die Einleitungsbehörde anordnen, dass dem vorläufig des Dienstes enthobenen Beamten ein Teil der jeweiligen Dienstbezüge einbehalten wird "wenn im Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Entfernung aus dem Dienst oder Aberkennung des Ruhegehalts erkannt werden wird". Davon ist hier nicht auszugehen. Nach derzeitiger Aktenlage wird das Disziplinarverfahren voraussichtlich nicht mit einer derartigen Disziplinarmaßnahme enden. Eine solche Maßnahme ist sogar eher unwahrscheinlich, keinesfalls ist sie überwiegend wahrscheinlich.
Der Einleitungsverfügung vom 4. Februar 2000, mit der zugleich die in diesem Verfahren gerügte Einbehaltung von Teilen der Dienstbezüge des Antragstellers angeordnet worden ist, liegen zwei voneinander unabhängige Tatkomplexe zugrunde, nämlich das
- schuldhaft ungenehmigte Fernbleiben vom Dienst in der Zeit vom 17. April 1999 bis zum 26. August 1999 und am 20. Oktober 1999 ab etwa 10 Uhr bis Dienstende und am 21. Oktober 1999 ganztägig sowie
- der tätliche Angriff auf den Leitenden Arzt des Grenzschutzpräsidiums ..., Dr. H., am 28. Oktober 1999.
Das letztgenannte Verhalten des Antragstellers führte zu einem Strafverfahren, in dem er vom Amtsgericht ... am 24. September 2001 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 50 DM verurteilt wurde. In der Berufungsinstanz wurde das Strafverfahren durch Beschluss des Landgerichts ... vom 13. Februar 2002 nach § 153 a Abs. 2 StPO endgültig eingestellt, nachdem der Antragsteller die ihm erteilte Auflage erfüllt hatte.
Dem Antragsteller kann zwar nicht darin gefolgt werden, dass die gemäß § 153 a Abs. 2 StPO erfolgte Einstellung des Strafverfahrens auch dem eingeleiteten Disziplinarverfahren ohne weiteres die Grundlage entzogen habe; denn das ihm vorgeworfene ungenehmigte Fernbleiben vom Dienst wird davon nicht berührt.
Gleichwohl können die Ausführungen in dem im strafgerichtlichen Verfahren eingeholten forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 10. April 2001 der Ärztin He. und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. nicht unberücksichtigt bleiben. Zwar bezog sich der gerichtliche Gutachterauftrag auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Antragstellers im Zeitpunkt des tätlichen Angriffs auf Dr. H. im Oktober 1999. Die in diesem Gutachten enthaltene Anamnese des Antragstellers lässt aber Rückschlüsse auf dessen Gesundheitszustand im Zeitpunkt des ihm vorgeworfenen unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst in dem davor liegenden Zeitraum zu. In dem Gutachten wird die Situation am Arbeitsplatz des Antragstellers, wie dieser sie empfindet, ausführlich geschildert. Wörtlich heißt es in diesem Gutachten (S. 29/30):
"Nachdem ihm vom BGS bereits die Berentung in Aussicht gestellt wurde, erlebt Herr S. die Annahme des BGS, er könne im Verwaltungsdienst arbeiten, als Hohn. Aus seiner Perspektive ergibt sich daraus als einzige vorstellbare Konsequenz, weiterhin krank zu sein. Dies geschieht offenbar nicht bewusst und willentlich, sondern ist als ein psychischer Mechanismus zu sehen, der nur durch eine lange psychotherapeutische Behandlung zu durchbrechen wäre. Aus unserer Sicht ist davon auszugehen, dass es für ihn in der Institution BGS nicht möglich sein wird, weiterzuarbeiten, unabhängig von dem Aufgabenfeld. Wir schließen uns damit der Meinung der behandelnden Psychiaterin Frau Dr. Sch. an, die dies schon 1999 attestierte.
Zusätzlich leidet Herr S. unter einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung. Das Hauptmerkmal dieser Störung ist ein durchgängiges Muster von Perfektionismus und Starrheit, sowohl im Denken als auch im Handeln. Patienten mit dieser Form der Störung sind oft einem kaum lösbaren Konflikt ausgesetzt: auf der einen Seite streben sie nach Perfektion, auf der andern Seite können sie jedoch ihre Aufgaben und Vorhaben aufgrund der von ihnen selbst gesetzten, übermäßig strengen und oft unerreichbaren Normen nur schwer realisieren. Personen mit dieser Störung sind meist außerordentlich gewissenhaft, spielen gern den Moralapostel und nehmen alles sehr genau, sowohl bei sich als auch bei anderen. Diese Art der Persönlichkeitsstörung ist sehr oft mit einer depressiven Störung kombiniert."
Nach dem vom Strafgericht in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten lag beim Antragsteller eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung im Sinne der Krankheitsklassifikation F 61 nach ICD 10 vor, die nur durch eine lange psychotherapeutische Behandlung zu durchbrechen wäre. Diese hatte sich nach den gutachterlichen Feststellungen über viele Jahre bis zu dem Zustand entwickelt, der im Jahr 2000 als Arbeitsunfähigkeit innerhalb der Strukturen des BGS diagnostiziert wurde. Es spricht viel dafür, dass die krankhafte Persönlichkeitsstörung auch die Dienstunfähigkeit des Antragstellers in den Fernbleibenszeiträumen des Jahres 1999 ausschloss. Dafür spricht auch die Aussage des Sachverständigen B. in seiner Vernehmung durch das AG ... vom 19. September 2001, dass man die Ausprägung der Persönlichkeitsstörung "als schwer bezeichnen muss".
Darüber hinaus ist in seinem Gutachten wiederholt - und auch insoweit in Übereinstimmung mit einem darin zitierten Entlassungsbericht des Universitätsklinikums L. - von (schweren) Depressionen bzw. (schweren) depressiven Episoden die Rede, und zwar u.a. auch für den Zeitpunkt August 1999. Die Sachverständigen präzisierten damit schriftlich und mündlich die Diagnose der behandelnden Ärztin für Psychotherapeutische Medizin Sch. vom 20. September 1999, wonach der Antragsteller im Zeitraum des ihm vorgeworfenen Fernbleibens "erwerbsfähig, aber nicht dienstfähig beim BGS im engeren Sinne" gewesen sei. Wenn die Sachverständigen diese komplexe Diagnose für die Bewertung des Verhaltens am 28. Oktober 1999, das seinerseits ausgelöst sein soll durch ein Gutachten von August 1999, in der Weise für maßgeblich gehalten haben, wie das in dem Gutachten und seiner mündlichen Erläuterung zum Ausdruck gebracht worden ist, dann erfahren dadurch auch die Dienstunfähigkeitsbescheinigungen der behandelnden Ärztin für die unmittelbar vorhergehende Zeit des Fernbleibens vom Dienst eine entsprechende Bestätigung. Anhaltspunkte für eine fachliche Differenz zwischen der Ärztin und den Gutachtern sind nicht ansatzweise zu erkennen.
Zur Entkräftung der nervernärztlichen Feststellungen ist das von der Antragsgegnerin eingeholte Sozialmedizinische Gutachten vom 6. August 1999 von Dr. med. R. (Facharzt für Orthopädie) nicht geeignet, das mit folgender Beurteilung schließt:
"Die ärztliche Feststellung der Frau Ursula Sch. vom 02.03.1999 und vom 10.07.1999, dass Herr S. aus psychotherapeutischer Sicht nicht in der Lage sei, irgendeine Tätigkeit beim BGS zu verrichten, andererseits aber eine vollschichtige Tätigkeit für leichte Verwaltungstätigkeit innerhalb einer Bundesbehörde ausüben könne, sind weder nach allgemein ärztlicher Erfahrung noch aus gutachterlicher Sicht nachvollziehbar. Den jeweils sparsamen sechs- bis siebenseitigen Mitteilungen der Ärztin für Psychotherapeutische Medizin ist eine Begründung für eine derartig selektive Leistungsminderung nicht zu entnehmen.
Als einziges sozialmedizinisch verwertbares Ergebnis ist anhand dieser letzten fachärztlichen Aussagen ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Verwaltungstätigkeiten festzustellen, dass sich im Übrigen auch aus dem Studium für Wirtschaft und Politik in H. ableiten lässt.
Insoweit ergibt sich keine Änderung der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung gegenüber der Begutachtung von 1995."
Der Aussagewert des Gutachtens vom 6. August 1999 wird erheblich dadurch gemindert, dass der Verfasser Dr. R. Facharzt für Orthopädie ist, während die gesundheitlichen Störungen des Antragstellers - selbst für Laien erkennbar - auf psychiatrischem Gebiet liegen (oder lagen). Nach der ausführlichen Anamnese des Antragstellers, wie sie sich aus dem in dem Strafverfahren eingeholten Gutachten ergibt, hatte sich der Antragsteller in eine Art Anti-Haltung gegenüber einer Tätigkeit beim BGS hineingesteigert, die Krankheitswert erreichte.
Nach alledem muss nach derzeitigem Erkenntnisstand als überwiegend wahrscheinlich davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller in den beanstandeten Zeiträumen auch objektiv nicht dienstfähig war, folglich kann ein schuldhaftes, also zumindest fahrlässiges ungenehmigtes Fernbleiben vom Dienst nicht festgestellt werden.
Handelte der Antragsteller auch bei dem Angriff auf Dr. H. am 28. Oktober 1999 nach den gutachterlichen Feststellungen im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit und trat er von dem Angriff nach dem Vermerk des Vorsitzenden der Strafkammer vom 7. Januar 2002 freiwillig zurück, so lässt sich - wie der Bundesdisziplinaranwalt in seiner Stellungnahme vom 11. Januar 2002 zutreffend einschätzte - die Anordnung nach § 92 BDO nicht mehr aufrechterhalten. Ob auch die Anordnung nach § 91 BDO aufgehoben werden sollte, wie der Bundesdisziplinaranwalt jedenfalls in der genannten Stellungnahme vom 11. Januar 2002 aus nachvollziehbaren Erwägungen empfohlen hat, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.