Beschluss vom 14.07.2004 -
BVerwG 1 B 17.04ECLI:DE:BVerwG:2004:140704B1B17.04.0

Beschluss

BVerwG 1 B 17.04

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 04.11.2003 - AZ: OVG 1 A 601/00.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Juli 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land
  2. Nordrhein-Westfalen vom 4. November 2003 wird aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
  4. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG), indem es entscheidungserhebliches Vorbringen nicht in der gebotenen Weise zur Kenntnis genommen und erwogen hat. Der Kläger befürchtet, wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten als Vertragsarbeiter in der ehemaligen Tschechoslowakei bei einer Rückkehr nach Vietnam politisch verfolgt zu werden. Mit der Beschwerde macht er geltend, das Berufungsgericht habe bei seiner Entscheidung wesentliche Umstände des Einzelfalles ignoriert. Er habe bei seiner Anhörung vor dem Verwaltungsgericht u. a. vorgetragen, Kollegen seien nach ihrer Rückkehr nach Vietnam aus Anlass der Berichte seines Vorgesetzten (wegen seiner antikommunistischen Aktivitäten) explizit über ihn befragt worden. Diesen vom Verwaltungsgericht als glaubhaft angesehenen Vortrag habe das Berufungsgericht unter Verletzung seines rechtlichen Gehörs übergangen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten vollständig zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, auch wenn es in den Gründen der Entscheidung nicht zu allen Einzelheiten ausdrücklich Stellung nimmt. Nur wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass ein Gericht seiner Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägung entscheidungserheblichen Vorbringens nicht nachgekommen ist, kann im Einzelfall ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 festgestellt werden (vgl. etwa BVerfGE 96, 205 <216 f.> m.w.N.). Solche besonderen Umstände liegen hier indes vor.
Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger aufgrund seiner Angaben und mit Blick auf das von ihm u.a. eingeholte Sachverständigengutachten von Dr. Will Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen, weil seine Aktivitäten in der ehemaligen Tschechoslowakei in Vietnam bekannt und dort als Ausdruck ernst zu nehmender Opposition gewertet worden seien (UA S. 7 f.), so dass er mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen müsse. Das Berufungsgericht hat aufgrund seiner - von der des Verwaltungsgerichts abweichenden - Würdigung der Auskunftslage einen Anspruch des Klägers auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG verneint und ausgeführt, dass mit strafrechtlichen Konsequenzen und damit mit politischer Verfolgung bei einer Rückkehr nur dann zu rechnen sei, wenn Vietnamesen mit ihren exilpolitischen Betätigungen besonders hervorgetreten seien und ihre Wirkung nicht auf das Ausland begrenzt geblieben sei. Entgegen der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Will sei nicht davon auszugehen, dass im Ausland entwickelte und bekannt gewordene Aktivitäten gegen die vietnamesische Regierung in jedem Fall beachtlich wahrscheinlich eine Bestrafung zur Folge hätten. Ausgehend von dieser Würdigung müsse der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Bestrafung wegen seiner angeführten exilpolitischen Betätigung - Kritik am vietnamesischen System und am Machtmonopol der Kommunistischen Partei mit der Folge der Androhung einer Zurücksendung nach Vietnam, Teilnahme an Demonstrationen gegen den Kommunismus, Rückzug aus der Tätigkeit im Kommunistischen Jugendverband - rechnen. Unabhängig davon, ob dieses Vorbringen des Klägers hinreichend substantiiert sei, werde nicht erkennbar, dass der Kläger damit in irgendeiner Weise in der Öffentlichkeit besonders hervorgetreten sein könnte. Erst recht sei nicht nachvollziehbar dargelegt, warum seine Betätigungen aus Sicht der vietnamesischen Behörden Wirkungen der oben beschriebenen Art gerade in Vietnam gezeigt haben könnten. Die vom Kläger geschilderten Aktivitäten stellten keinerlei Besonderheit gegenüber dem Schicksal tausender vietnamesischer Vertragsarbeiter in Osteuropa dar. <Verfolgungsaktivitäten des vietnamesischen Staates gegenüber diesem Personenkreis mit Blick auf einen etwaigen "Gesinnungswandel" seien indes - auch nach der im Verfahren eingeholten gutachterlichen Stellungnahme von amnesty international vom 27. August 1999 - vollständig ausgeblieben. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Masse der während des kommunistischen Herrschaftssystems nach Europa geschickten privilegierten und staatstreuen Vietnamesen, die sich während des Zerfalls und nach dem Ende dieses Herrschaftssystems ggf. untergeordnet bedeutsam exilpolitisch betätigt hätten, im Falle der Rückkehr nach Vietnam als "Verräter" asylerheblich gefährdet seien> (BA S. 32, 34 ff.).
Das Berufungsgericht hat damit zwar bei seiner Würdigung die vom Kläger geltend gemachten exilpolitischen Betätigungen und ihr Bekanntsein in Vietnam zugrunde gelegt, es ist aber, wie die Beschwerde zu Recht rügt, nicht darauf eingegangen, dass nach dem vom Verwaltungsgericht für glaubhaft gehaltenen Vortrag des Klägers dessen Kollegen nach ihrer Rückkehr nach Vietnam aus Anlass der dorthin übermittelten Berichte des Vorgesetzten über den Kläger befragt worden sind. Dieser Umstand kann für die Beurteilung, ob eine exilpolitische Tätigkeit von den vietnamesischen Behörden als ernsthafte Bedrohung empfunden wird, nicht von vornherein als unerheblich angesehen werden und hätte deshalb in den Entscheidungsgründen angesprochen werden müssen. Auch bei Zugrundelegung der Bewertung der Auskunftslage durch das Berufungsgericht hätte nicht unerörtert bleiben dürfen, ob ein durch solche konkreten Befragungen belegtes Interesse des vietnamesischen Staates an dem Kläger zu einer anderen Einschätzung der Gefahrensituation Anlass geben könnte.
Die mangelnde Auseinandersetzung des Berufungsgerichts mit diesem Vorbringen lässt sich auch nicht etwa damit erklären, dass das Berufungsgericht den Vortrag insoweit für unsubstantiiert oder unglaubhaft gehalten und gemeint hat, aus diesem Grund nicht darauf eingehen zu müssen. Dies kann schon deshalb nicht unterstellt werden, weil der Berichterstatter in dem Anhörungsschreiben zum vereinfachten Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO vom 10. September 2003 ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass eine Notwendigkeit zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht gesehen werde, da allein noch Rechtsfragen zur Entscheidung anstünden, zu denen bereits ausführlich vorgetragen worden sei. Insofern wäre es widersprüchlich und seinerseits verfahrensfehlerhaft, wenn das Berufungsgericht entgegen dieser Ankündigung den vom Verwaltungsgericht für glaubhaft gehaltenen Vortrag des Klägers nicht vollständig als wahr unterstellt hätte, sondern abweichend von der Beurteilung des Verwaltungsgerichts zum Teil als unsubstantiiert oder unglaubhaft angesehen hätte (zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen bei von der Vorinstanz abweichender Beweiswürdigung des Berufungsgerichts vgl. auch Beschluss vom 27. Januar 2000 - BVerwG 9 B 613.99 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 228).
Die angefochtene Entscheidung kann auf dem von der Beschwerde gerügten Gehörsverstoß auch beruhen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Auf die von der Beschwerde erhobene weitere Verfahrensrüge kommt es danach nicht mehr an.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.