Beschluss vom 13.08.2003 -
BVerwG 7 B 24.03ECLI:DE:BVerwG:2003:130803B7B24.03.0

Beschluss

BVerwG 7 B 24.03

  • VG Greifswald - 19.12.2002 - AZ: VG 6 A 1761/97

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. August 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht S a i l e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H e r b e r t und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 19. Dezember 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 186 093 € festgesetzt.

Der Kläger begehrt die vermögensrechtliche Rückübertragung des hälftigen Miteigentumsanteils an einem Grundstück. Das Grundstück war mit einem Gebäude bebaut, das seit 1953 gegen ein monatliches Entgelt als Schule genutzt wurde; weitere Teile des Gebäudes waren zu Wohnzwecken vermietet. Der Rat der Gemeinde P. beantragte, das Grundstück in Volkseigentum zu überführen, weil der Schulträger Baumaßnahmen im Wert von ca. 120 000 M beabsichtige. Das Grundstück wurde im April 1977 nach dem Aufbaugesetz in Anspruch genommen. Der Schulträger wandte nach seinen Angaben gegenüber dem Amt zur Regelung offener Vermögensfragen in den Jahren nach 1984 insgesamt etwa 200 000 M auf, um das Gebäude auszubauen und zu unterhalten.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und unter anderem angenommen, eine Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 2 VermG liege nicht vor: Für das Grundstück seien kostendeckende Mieten erzielt worden. Das Grundstück sei im Zeitpunkt der Enteignung weder überschuldet gewesen noch habe seine Überschuldung bevorgestanden. Eine Überschuldung des Grundstücks sei nicht wesentliche Ursache für seine Überführung in Volkseigentum gewesen. Das Verwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Klägers ist begründet. Die Rechtssache hat zwar nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Das angefochtene Urteil beruht aber auf einem zumindest sinngemäß dargelegten Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
1. a) Der Kläger wirft zum einen die Frage auf,
ob und inwieweit bei der Auslegung und Anwendung des Tatbestandsmerkmals der nicht kostendeckenden Mieten im Sinne von § 1 Abs. 2 VermG auch eine an sich zu bildende, kalkulatorische Instandsetzungsrücklage anzusetzen bzw. zu berücksichtigen ist.
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, weil sich die Antwort auf sie unmittelbar aus der einschlägigen Vorschrift und der hierzu bereits ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt. Die Kosten eines Mietobjekts umfassen nicht nur die laufenden Ausgaben, zu denen neben Gebäudeversicherungen und grundstücksbezogenen Steuern und Abgaben auch die Aufwendungen für die laufende Instandhaltung des Gebäudes gehören. Aus den Erträgen des Grundstücks müssen darüber hinaus die Kosten für größere Instandsetzungen gedeckt werden, die in größeren zeitlichen Abständen anfallen. Derartige größere Instandsetzungen werden entweder aus einer hierfür gebildeten Rücklage oder durch Aufnahme eines Kredites finanziert. Die Mieten deckten nur dann die Kosten, wenn der Mietreinertrag, der nach Abzug der laufenden Ausgaben verblieb, ausreichte, um zu den seinerzeit üblichen Konditionen ein Darlehen zu verzinsen und zu tilgen, das zur Finanzierung größerer Reparaturen aufzunehmen war, oder wenn aus dem Mietreinertrag eine Rücklage für künftig anfallende größere Reparaturen gebildet werden konnte (vgl. etwa Urteil vom 16. März 1995 - BVerwG 7 C 39.93 - BVerwGE 98, 87 <98>). Wurden in der Zeit vor dem Eigentumsverlust aus dem Grundstück jahrelang Erträge gezogen, ohne dass diese jemals für größere Instandsetzungsmaßnahmen verwendet oder zurückgelegt worden sind, setzt die erforderliche Kausalität zwischen Überschuldung und unzureichenden Mieteinnahmen voraus, dass die Kosten des im Zeitpunkt des Eigentumsverlusts unabweisbar notwendigen Instandsetzungsbedarfs den Zeitwert zuzüglich eines angemessenen Betrags fiktiver Rücklagen übersteigen (Urteil vom 30. Mai 1996 - BVerwG 7 C 47.94 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 78). Mit dieser Rechtsprechung setzt das Bundesverwaltungsgericht nur die Selbstverständlichkeit voraus, dass dann, aber auch nur dann von kostendeckenden Mieten die Rede sein kann, wenn aus den Erträgen Rücklagen für umfangreiche, in größeren zeitlichen Abständen erforderliche Reparaturen gebildet werden können.
b) Der Kläger möchte zum anderen die Frage geklärt wissen,
ob die Vermutung nicht kostendeckender Mieten auch im Falle einer Enteignung des Grundstücks anwendbar ist.
Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand und muss nicht erst in einem Revisionsverfahren gegeben werden. Das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Rechtsprechung von der Vermutung aus, dass eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende Überschuldung auf nicht kostendeckenden Mieten beruhte. Diese Vermutung setzt die regelmäßige Kostenunterdeckung der Mieten voraus. Sie knüpft damit an die allgemein anerkannte, in der Regelung des § 1 Abs. 2 VermG zum Ausdruck kommende Erfahrung an, dass die Mieten in der DDR im Regelfall die Kosten nicht deckten, unabhängig davon, ob dies im Einzelfall zur Überschuldung geführt hatte oder nicht (Urteil vom 11. Februar 1999 - BVerwG 7 C 4.98 - BVerwGE 108, 281 <283>). Diese Zusammenhänge bestehen unabhängig davon, ob ein infolge nicht kostendeckender Mieten überschuldetes Grundstück enteignet oder durch eine selbstschädigende Maßnahme des Eigentümers in Volkseigentum überführt wurde.
Möglicherweise möchte der Kläger aber auch, anknüpfend an in diese Richtung zielende Ausführungen des Verwaltungsgerichts, die Frage geklärt wissen,
ob im Falle der Enteignung eines überschuldeten Grundstücks zu vermuten ist, dass die eingetretene oder unmittelbar bevorstehende Überschuldung wesentliche Ursache für die Enteignung gewesen ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf in Fällen der Eigentumsaufgabe vermutet werden, dass eine dauerhafte Überschuldung des Grundstücks bestimmendes oder wesentlich mitbestimmendes Motiv für das Handeln des Eigentümers war. Ob eine solche Vermutung auch in Fällen der Enteignung eingreift, hat das Bundesverwaltungsgericht bisher ausdrücklich offen gelassen (Urteil vom 30. Mai 1996 - BVerwG 7 C 49.95 - Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 79). Der Kläger hat nicht dargelegt, dass es hier entscheidungserheblich auf eine solche Vermutung ankommt. Das Verwaltungsgericht hat ausgehend von kostendeckenden Mieten und mangels einer Überschuldung des Grundstücks angenommen, Grund für dessen Inanspruchnahme sei der geplante und später verwirklichte Ausbau der Schulwerkstatt gewesen.
2. Das Verwaltungsgericht hat aber seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Diesen Verfahrensfehler hat der Kläger zumindest sinngemäß mit seinen Ausführungen dargelegt, das Verwaltungsgericht habe gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verstoßen.
a) Das Verwaltungsgericht hätte nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts annehmen dürfen, die Mieten hätten die Kosten gedeckt.
Das Verwaltungsgericht hat die erzielten Einnahmen aus der Vermietung des Gebäudes den tatsächlichen Ausgaben für das Objekt gegenübergestellt. Das Verwaltungsgericht hat dabei aber den wesentlichen und entscheidungserheblichen Umstand übergangen, dass die dabei berücksichtigten Ausgaben des Verwalters für das Objekt offensichtlich nur die Kosten der laufenden Instandhaltung des Gebäudes umfassten. Das Verwaltungsgericht hätte deshalb die Frage klären müssen, ob der von ihm errechnete Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben ausreichte, etwa durch Bildung von Rücklagen oder durch Finanzierung eines aufzunehmenden Kredits die Kosten zu decken, die erfahrungsgemäß für umfangreichere Instandsetzungen in größeren Zeitabständen anfallen.
Die Notwendigkeit derartiger Ermittlungen musste sich dem Verwaltungsgericht auch ohne darauf gerichteten Beweisantrag aufdrängen. Zu einem solchen Beweisantrag hatte der Klä-
ger keinen Anlass gehabt, weil er von der Vermutung nicht kostendeckender Mieten ausging.
b) Das Verwaltungsgericht hätte nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts von der weiteren selbstständig tragenden Annahme ausgehen dürfen, eine Überschuldung des Grundstücks habe im Zeitpunkt der Inanspruchnahme nicht unmittelbar bevorgestanden.
Nach dem zutreffenden rechtlichen Ansatz des Verwaltungsgerichts hätte eine solche Überschuldung bevorgestanden, wenn im Zeitpunkt der Inanspruchnahme (April 1977) Instandsetzungsmaßnahmen unaufschiebbar notwendig gewesen wären, deren Kosten den Zeitwert des Grundstücks überstiegen hätten. Auf den in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag des Klägers hat das Verwaltungsgericht als wahr unterstellt, dass die von 1984 bis 1989 durchgeführten Maßnahmen einer Sanierung und Reparatur des Gebäudes im Sinne seiner Substanzerhaltung gedient hatten. Das Verwaltungsgericht hat dabei weiter zugrunde gelegt, dass nach Aktenlage der Schulträger bereits im November 1976 Baumaßnahmen mit Kosten von 120 000 M für erforderlich gehalten hatte und ein Gutachten aus dem Dezember 1977 Mängel an dem Gebäude ergeben hatte. Einen unaufschiebbar notwendigen Instandsetzungsbedarf zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme hat das Verwaltungsgericht allein mit der Begründung abgelehnt, nach der Inanspruchnahme seien bis zum Beginn der Baumaßnahmen sieben Jahre verstrichen.
Mit dieser Begründung hätte das Verwaltungsgericht nur dann auf konkrete Feststellungen zu Art, Umfang und Dringlichkeit der Instandsetzungsmaßnahmen verzichten dürfen, wenn es sich auf eine allgemein anerkannte Erfahrungstatsache hätte stützen können, dass dringend notwendige Instandsetzungen alsbald nach Übernahme eines Grundstücks in Volkseigentum auch ins Werk gesetzt worden sind. Eine solche Erfahrungstatsache besteht jedoch nicht. Vielmehr konnten sich auch dringend notwendige Instandsetzungsmaßnahmen nach den Verhältnissen in der DDR etwa wegen fehlender Bereitstellung der finanziellen Mittel oder mangels freier Baukapazitäten auch länger verzögern. Mit dem Hinweis auf den Zeitablauf allein war die vom Verwaltungsgericht angenommene mangelnde Dringlichkeit der Baumaßnahmen nicht ausreichend geklärt.
Das angefochtene Urteil beruht auf den Verfahrensfehlern. Zwar hat das Verwaltungsgericht sich selbständig tragend auch darauf gestützt, dass eine Überschuldung des Grundstücks nicht wesentliche Ursache für seine Inanspruchnahme war. Die hierfür gegebene Begründung ist aber maßgeblich durch die Annahmen mitbestimmt, die Mieten hätten die Kosten gedeckt und eine Überschuldung des Grundstücks sei weder eingetreten noch habe sie unmittelbar bevorgestanden. Deshalb kann offen bleiben, ob das Verwaltungsgericht sich mit seinen weiteren Ausführungen in Widerspruch zu seiner Wahrunterstellung setzt, die Baumaßnahmen hätten lediglich der Substanzerhaltung des Gebäudes gedient.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, wegen des Verfahrensfehlers die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.