Beschluss vom 13.03.2008 -
BVerwG 1 B 59.07ECLI:DE:BVerwG:2008:130308B1B59.07.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 13.03.2008 - 1 B 59.07 - [ECLI:DE:BVerwG:2008:130308B1B59.07.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 59.07

  • VGH Baden-Württemberg - 18.04.2007 - AZ: VGH 11 S 1034/06

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. März 2008
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. April 2007 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 1. Die Beschwerde sieht eine die Revisionszulassung rechtfertigende Abweichung (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) der angegriffenen Berufungsentscheidung von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Mai 2007 (2 BvR 304/07 - NVwZ 2007, 946) in der Frage der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei einer Ausweisung (Beschwerdebegründung Ziffer 2). Sie rügt, das Berufungsgericht habe seiner Entscheidung nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zugrunde gelegt, sondern es ausreichen lassen, dass die Folgen einer Ausweisung im Hinblick auf Art. 8 EMRK „nicht gänzlich unverhältnismäßig“ seien.

3 Die von der Beschwerde geltend gemachte Abweichung des Berufungsurteils von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt in der Sache nicht vor. Zwar verwendet der Verwaltungsgerichtshof nicht den Begriff der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, worauf die Beschwerde sich beruft, sondern führt aus, dass ein Verweis auf ein Leben in Algerien „im vorliegenden Fall auch weder im Hinblick auf Art. 6 GG noch im Hinblick auf Art. 8 EMRK gänzlich unverhältnismäßig“ sei (UA S. 25). Damit legt er tatsächlich aber keinen abweichenden Verhältnismäßigkeitsmaßstab zugrunde. Denn das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung (auch Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne genannt), ob die für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interessen im Einzelfall die für einen Verbleib des Ausländers in Deutschland sprechenden individuellen Interessen überwiegen (vgl. etwa Beschluss vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300 Rn. 24). Auf die entsprechenden Kriterien für die Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverwaltungsgerichts nimmt das Bundesverfassungsgericht in der von der Beschwerde zitierten Passage aus dem Beschluss vom 10. Mai 2007 ausdrücklich Bezug (a.a.O. Rn. 33). Diesen Prüfungsmaßstab wendet auch der Verwaltungsgerichtshof in dem angefochtenen Urteil an. Denn er prüft, ob das öffentliche Interesse an einer Ausweisung des Klägers höher zu bewerten ist als sein privates Interesse und das seiner Familie am Verbleib - auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK und Art. 6 GG (UA S. 24 - 26). Aus der vom Berufungsgericht gewählten Formulierung („nicht gänzlich unverhältnismäßig“), die sich freilich auf eine zurückliegende Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und nicht auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung bezieht, ergibt sich keine Maßstabsdivergenz in der Sache.

4 2. Die Beschwerde sieht eine weitere Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO darin, dass das Berufungsurteil von dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2005 (2 BvR 1001/04 - InfAuslR 2006, 122) in der Frage der Vereinbarkeit einer vorübergehenden Trennung eines Kindes von seinem Elternteil mit Art. 6 GG abweiche (Beschwerdebegründung Ziffer 4). Als Rechtssatz, von dem abgewichen sein soll, benennt sie die Aussage des Verfassungsgerichts, dass bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, im Einzelfall zu würdigen sei, „welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte“. Das Berufungsgericht nehme in dem angegriffenen Urteil hingegen an, dass in Fällen, in denen die Eltern auf ein Leben mit den Kindern in einem Heimatstaat der Eltern verwiesen werden könnten, eine vorübergehende Trennung grundsätzlich zulässig sei.

5 Ungeachtet der Frage, ob die Beschwerde damit einen abweichenden Rechtssatz des Berufungsgerichts aufzeigt, obwohl dieses selbst ausdrücklich auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Dezember 2005 hinweist (UA S. 25), fehlt es jedenfalls an der Darlegung, dass die gerügte Abweichung entscheidungserheblich ist. Denn die Beschwerde legt nicht dar, dass es infolge der Ausweisung des Klägers zu einer vorübergehenden Trennung von seinen Kindern käme. Das Berufungsgericht geht vielmehr hinsichtlich der Kinder davon aus, dass diese nicht mehr - ebenso wenig wie ihre Mutter - über einen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik Deutschland verfügen, dass sie die algerische Staatsangehörigkeit durch Abstammung vom Kläger erworben haben (UA S. 22) und ihnen eine Übersiedlung nach Algerien zumutbar sei (UA S. 26). Sie zeigt auch nicht auf, dass eine vorübergehende Trennung - etwa infolge zeitlicher Verzögerung zwischen Ausweisung des Klägers und Nachzug der Kinder - zu Nachteilen für die Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl führe, deren Vermeidung höher zu bewerten wäre als das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers.

6 Da die Entscheidungserheblichkeit dieser Frage nicht aufgezeigt wird, fehlt es insoweit auch an einer Voraussetzung für die geltend gemachte Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage (Beschwerdebegründung Seite 7 oben).

7 3. Die Beschwerde hält weiter die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), ob in Fällen der „Ausweisung von Ausländern, in denen - wie hier - Art. 8 EMRK einer Prüfung bedarf, regelmäßig die Frage der Befristung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu prüfen und entscheiden ist“ (Beschwerdebegründung Ziffer 3). Die Beschwerde beruft sich auf eine entsprechende Rechtsprechung des EGMR und trägt vor, das Berufungsgericht habe im angefochtenen Urteil hierzu keine Ausführungen gemacht.

8 Die erhobene Grundsatzrüge entspricht nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Denn die Beschwerde trägt nicht vor, woraus sich ein rechtsgrundsätzlicher Klärungsbedarf ergeben soll. Sie geht insbesondere nicht auf die bereits bestehende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein, wonach es bei der Prüfung einer Befristung im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ankommt (vgl. Urteil vom 15. März 2005 - BVerwG 1 C 2.04 - Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 42; jetzt auch Urteil vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 1 C 10.07 - Rn. 18 - zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen). Im Übrigen setzt sie sich nicht damit auseinander, dass nach der von ihr selbst in Bezug genommenen Rechtsprechung des EGMR eine Prüfung der Befristung nur „regelmäßig“ zu erfolgen habe und es im vorliegenden Fall nach der im Revisionsverfahren zugrunde zu legenden Tatsachen- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts dem erst als Erwachsenen nach Deutschland eingereisten Kläger und seiner Familie zuzumuten sei, gemeinsam in Algerien zu leben. Vor diesem Hintergrund hätte es jedenfalls näherer Darlegungen dazu bedurft, dass und warum auch in solchen Fällen es klärungsbedürftig sein könnte, ob bereits im Zeitpunkt der Ausweisung die Prüfung einer Befristung geboten ist. Der Hinweis, das Berufungsgericht habe in dem angefochtenen Urteil keine Ausführungen zur Befristung gemacht, reicht hierfür nicht.

9 4. Die von der Beschwerde gerügten Verfahrensmängel der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 138 Nr. 3 VwGO) sind nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargetan.

10 Die Beschwerde beanstandet, dass das Gericht seine Entscheidung auf Tatsachen gestützt habe, zu denen der Kläger sich nicht habe äußern können. Das Gericht hätte dem Kläger hierzu rechtliches Gehör geben und ihm insbesondere zu erkennen geben müssen, dass es von diesen Tatsachen ausgehe (Beschwerdebegründung Ziffer 1). Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich jedoch die behauptete Gehörsverletzung durch eine den Kläger überraschende Entscheidung in allen drei von der Beschwerde angesprochenen Punkten (vgl. nachstehend a bis c) nicht.

11 a) Die Beschwerde setzt zunächst an folgendem Satz der Entscheidungsgründe an (Beschwerdebegründung Ziffer 1 - Teil 1):
„Anfang Oktober 2001 wurde die Beklagte nur deshalb auf den Kläger aufmerksam, weil es im Zusammenhang mit Tätlichkeiten des Klägers gegen seine Lebensgefährtin zu einem Polizeieinsatz gekommen war.“ (UA S. 17).

12 Das Berufungsgericht unterstelle, dass der Kläger gegen seine Lebensgefährtin gewalttätig geworden sei; das entspreche nicht den Tatsachen. Damit sei die Feststellung der Gewaltbereitschaft des Klägers als Beleg für eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr vom Berufungsgericht unter Verletzung des rechtlichen Gehörs erfolgt.

13 Mit diesem Vorbringen wird das Vorliegen eines Gehörsverstoßes nicht aufgezeigt, weil der wiedergegebene Auszug aus den Gründen der Berufungsentscheidung nicht in dem von der Beschwerde unterstellten Kontext steht. Der Verwaltungsgerichtshof leitet auf Seite 16 f. des Urteils die Prognose der Begehung weiterer Straftaten aus den vom Kläger auch nach seiner Abschiebung im Jahr 1997 begangenen erheblichen Verstößen gegen Rechtsvorschriften ab. Dazu stellt er auf die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Aufenthalt trotz des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie den Verstoß gegen die Passpflicht ab. Der Kläger habe dadurch verschiedene Straftatbestände des § 92 AuslG erfüllt. Der zitierte, sich daran unmittelbar anschließende Satz schließt in erster Linie den Komplex der bis zur Ausweisung andauernden ausländerrechtlichen Straftaten ab; die Feststellung gegenwärtiger Gewaltbereitschaft ist damit nicht verbunden und ergibt sich auch nicht aus der resümierten Gesamtschau, dass sich aus dem Verhalten des Klägers eine erhebliche Bereitschaft ergebe, sich unbedenklich über Rechtsvorschriften hinwegzusetzen.

14 Im Übrigen geht die Beschwerde nicht darauf ein, dass sich die Beklagte auf diesen Vorfall bereits mit Schriftsatz vom 13. April 2004 an das Verwaltungsgericht berufen hat, ohne dass aus den Akten ersichtlich ist, dass der Kläger dem widersprochen hätte. Von daher ist nicht nachvollziehbar, warum der Kläger durch die Heranziehung dieser Tatsache durch das Berufungsgericht überrascht und in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sein soll.

15 b) Die Beschwerde lässt auch nicht erkennen, woraus sich eine Gehörsverletzung dadurch ergeben soll, dass das Berufungsgericht eine vom Kläger im Mai 2002 begangene Körperverletzung, deren Verfolgung nach § 154 Abs. 1 StPO im Hinblick auf eine andere Straftat eingestellt worden ist (UA S. 17), als Beleg für dessen mangelnde Rechtstreue herangezogen hat (Beschwerdebegründung Ziffer 1 - Teil 2). Zwar trägt der Kläger in seiner Beschwerde vor, er habe damals keine Körperverletzung begangen, sondern sei angegriffen worden. Er legt aber nicht dar, diese Darstellung des Sachverhalts auch schon dem Berufungsgericht unterbreitet zu haben, ohne dass es diesen zur Kenntnis genommen und bei seiner Beweiswürdigung einbezogen habe. Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, dass und warum das Gericht dem Kläger einen Hinweis auf die Berücksichtigung dieses Umstands hätte geben müssen. Das war auch tatsächlich nicht erforderlich, weil die nunmehr bestrittene Körperverletzung vom Mai 2002 bereits im Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums vom 9. September 2003 als Beleg für die Erfüllung der Ausweisungsvoraussetzungen herangezogen wurde (vgl. UA S. 5), also Gegenstand des Prozessstoffs war und der Kläger von sich aus etwaige entlastende Gesichtspunkte hätte vortragen müssen.

16 c) Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers ergibt sich auch nicht aus der weiteren Rüge, dass das Gericht die Tatsache verwertet habe, dass die Lebensgefährtin des Klägers Muslimin, im Libanon geboren und in einer libanesischen Großfamilie aufgewachsen sei, und daraus den Schluss gezogen habe, dass ihr dies ein Leben im arabischen Kulturraum (hier: in Algerien) erleichtere (Beschwerdebegründung Ziffer 5 unter Verweis auf UA S. 26). Denn die Beschwerde trägt nicht vor, dass die vom Gericht verwerteten Tatsachen unzutreffend sind. Der Sache nach wendet sie sich nur gegen die aus den Tatsachen gezogene Schlussfolgerung, dass der Lebensgefährtin ein Leben im arabischen Kulturraum zumutbar sei. Mit Angriffen gegen die gerichtliche Tatsachen- und Beweiswürdigung kann die Beschwerde einen Gehörsmangel jedoch nicht begründen, schon gar nicht mit einem tatsächlichen Vorbringen, von dem nicht einmal behauptet wird, dass es auch dem Berufungsgericht unterbreitet worden ist. Im Übrigen konnte den Kläger auch die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung schon deshalb nicht überraschen, weil bereits der Widerspruchsbescheid auf die Herkunft der Lebensgefährtin aus dem Libanon abstellte und zu dem Ergebnis kam, ihr sei es mit den beiden Kindern zumutbar, dem Kläger in dessen Heimatland zu folgen.

17 Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

18 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.