Beschluss vom 12.04.2007 -
BVerwG 1 B 122.06ECLI:DE:BVerwG:2007:120407B1B122.06.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 12.04.2007 - 1 B 122.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:120407B1B122.06.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 122.06

  • Bayerischer VGH München - 06.03.2006 - AZ: VGH 9 B 02.30792

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. April 2007
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten wird verworfen.
  2. Auf die Beschwerde des Beteiligten wird das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. März 2006 aufgehoben.
  3. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  4. Die Kostenentscheidung in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  5. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beklagte die Hälfte. Die Entscheidung über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Gründe

I

1 Der Kläger zu 1 und die mit ihm in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebende Klägerin zu 2 stammen aus der ehemaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan. Sie reisten nach eigenen Angaben aus Furcht vor Verfolgung wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit im Jahr 1988 aus ihrer Heimat aus und lebten nach ihrer Ausreise in Barnaul im Gebiet der heutigen Russischen Föderation. Der Kläger zu 1 gab an, er habe dort Handel getrieben und auch als Friseur gearbeitet. Offiziell sei er nicht angemeldet gewesen, sondern habe nur gelegentlich für einen Monat eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Er sei des Öfteren kontrolliert worden und habe Strafe zahlen müssen. Im April 1998 hätten er und die Klägerin zu 2 im Rahmen einer familiären Hochzeitsfeier geheiratet. Von da an habe es Schwierigkeiten mit den in Barnaul lebenden Armeniern gegeben, die mit der Hochzeit nicht einverstanden gewesen seien. Wegen dieser Schwierigkeiten hätten beide im Oktober 1998 Barnaul verlassen und seien nach Deutschland eingereist. Hier beantragten sie Asyl. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Asylanträge ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 1 AufenthG) und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) nicht vorliegen und drohte den Klägern die Abschiebung in die Russische Föderation an.

2 Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage teilweise stattgegeben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Aserbaidschans vorliegen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragten), die sich gegen die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG richtet, zurückgewiesen. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Kläger wegen der Gefahr asylerheblicher Verfolgung aus Aserbaidschan ausgereist sind, aber unabhängig davon Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG genießen, weil sie wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit von Aserbaidschan ausgebürgert worden seien und ihnen die Wiedereinreise dorthin verwehrt werde. Wegen dieser Ausbürgerung und Einreiseverweigerung komme es nicht mehr darauf an, ob ihnen heute in Berg-Karabach eine zumutbare Fluchtalternative offenstehe. Ein gesicherter Aufenthalt dort sei kein Ausgleich der asylerheblichen Rechtsbeeinträchtigung, die durch den Entzug der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit und des Rechts auf Wiedereinreise entstanden sei. Allerdings sei die Einreise nach Berg-Karabach nur von Armenien aus möglich und setze dort zunächst den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit oder die Stellung eines Asylantrags voraus. Gegen die Nichtzulassung der Revision wenden sich die Beklagte und der Bundesbeauftragte mit Grundsatz-, Divergenz- und Verfahrensrügen.

II

3 Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig (s.u. 1). Hingegen hat die Beschwerde des beteiligten Bundesbeauftragten mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Er rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer den Verfolgungsschutz ausschließenden Sicherheit der Kläger in der Russischen Föderation nicht nachgekommen ist (s.u. 2). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

4 1. Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig. Sie legt die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dar.

5 a) Die Beklagte rügt, es widerspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts zur inländischen Fluchtalternative, wenn es das Berufungsgericht als unerheblich erachte, ob die Kläger über Armenien nach Berg-Karabach gelangen könnten und dort eine zumutbare inländische Fluchtalternative hätten, weil es dem Asylbewerber freistehe, den Zielstaat seiner Flucht zu wählen, und die Möglichkeit, innerhalb des Heimatstaates eine Zuflucht zu finden, unwesentlich sei, wenn der Zentralstaat sie ausgebürgert habe und in das Kernterritorium nicht wiedereinreisen lasse (Beschwerdebegründung S. 5).

6 Mit diesem Vorbringen kann eine Zulassung der Revision wegen Divergenz nicht erreicht werden. Die Beschwerde zeigt nämlich nicht - wie erforderlich - die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage auf, für die sie eine Divergenz behauptet. Dies hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 5. April 2007 auf eine Beschwerde der Beklagten gleichen Inhalts entschieden (BVerwG 1 B 165.06 ). Auf die Gründe dieses Beschlusses wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.

7 b) Die Beklagte wirft zwei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für den Fall auf, dass die unter „a“ erörterte Divergenz nicht vorliegt (Beschwerdebegründung S. 6):
(1) Lässt die Ausbürgerung durch den Zentralstaat die Klärung der Frage obsolet werden, ob der Ausländer in einem - zugänglichen - Teilbereich des Herkunftsstaats Aufnahme finden könnte?
(2) Kann eine eventuelle inländische Fluchtalternative einem Asylsuchenden auch dann entgegengehalten werden, wenn er den Ort der Zuflucht nur über einen Drittstaat - hier: Armenien - unter bestimmten Erschwernissen, u.a. möglicher Wartezeiten und Beantragung etwa des Flüchtlingsstatus dort, erreichen kann?

8 Auch diese Rügen rechtfertigen die Zulassung der Revision nicht. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass sie der Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfen. Auch dies hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 5. April 2007 auf eine Beschwerde der Beklagten gleichen Inhalts entschieden (BVerwG 1 B 165.06 ). Auch insoweit wird auf die Gründe dieses Beschlusses verwiesen.

9 Allerdings bemerkt der Senat auch für das vorliegende Verfahren, dass die mit der ersten Grundsatzrüge (1) angesprochene (nicht entscheidungserhebliche) Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, bei aus asylerheblichen Gründen ausgebürgerten Flüchtlingen, denen außerdem die Wiedereinreise in ihr Herkunftsland verweigert werde, komme es nicht darauf an, ob ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative offenstehe (UA S. 10), der bisherigen Rechtsprechung des Senats so nicht zu entnehmen ist. Zur Begründung wird auf den Beschluss des Senats vom 22. März 2007 in dem Verfahren BVerwG 1 B 97.06 (Rn. 15) Bezug genommen.

10 c) Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich auch der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht. Dies hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 17. September 2006 auf eine Beschwerde der Beklagten gleichen Inhalts entschieden (BVerwG 1 B 102.06 - juris). Auf die Gründe dieses Beschlusses wird verwiesen.

11 2. Erfolg hat hingegen der Bundesbeauftragte mit der von ihm erhobenen Verfahrensrüge. Er rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer den Verfolgungsschutz ausschließenden Sicherheit der Kläger in der Russischen Föderation nicht nachgekommen ist.

12 Das Berufungsgericht hat im Tatbestand des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Kläger aus der Russischen Föderation kommend nach Deutschland eingereist sind. Das Urteil gibt weiter das Vorbringen der Kläger wieder, dass sie im Jahr 1988 Aserbaidschan verlassen und sich nach Barnaul in das Gebiet der heutigen Russischen Föderation begeben und dort bis zur Ausreise im Oktober 1998 gelebt haben. Sie hätten Barnaul verlassen, weil sie nach ihrer in privatem Rahmen gefeierten Hochzeit Schwierigkeiten mit den dort lebenden Armeniern bekommen hätten (UA S. 2 f.).

13 Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht, dass sich das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil nicht damit befasst hat, wie der zehnjährige Aufenthalt der Kläger in der Russischen Föderation in asylrechtlicher Hinsicht zu qualifizieren ist, und namentlich nicht begründet hat, weshalb dort keine anderweitige Verfolgungssicherheit bestand (Beschwerdebegründung S. 8 Abschnitt a). In seinem Urteil vom 8. Februar 2005 hat der Senat entschieden, dass ein Ausländer keinen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wenn er in einem anderen Staat bereits Schutz vor politischer Verfolgung gefunden hat und diesen Schutz weiterhin erlangen kann (BVerwGE 122, 376, Leitsatz 2). Er hat damals im Falle einer aus Syrien stammenden Klägerin mit türkischer Staatsangehörigkeit ausgeführt, das Berufungsgericht hätte prüfen und feststellen müssen, ob diese in Syrien vor asylrelevanten Übergriffen tatsächlich sicher war und weiterhin sicher wäre und ob sie nach Syrien zurückkehren könne (BVerwGE 122, 376 <388>). Es ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, nach der sich eine solche Prüfung erübrigen würde. Danach hätte das Berufungsgericht die erforderlichen Feststellungen zum vorgetragenen zehnjährigen Aufenthalt der Kläger in Barnaul treffen und begründen müssen, ob sie hierdurch Schutz vor Verfolgung in der Russischen Föderation gefunden haben, diesen weiterhin finden können und ob sie wieder dorthin zurückkehren könnten. Keine Begründung zur erlangten Verfolgungssicherheit stellen die kurzen Ausführungen des Gerichts zur Frage dar, ob die Kläger einen „gewöhnlichen Aufenthalt“ in der Russischen Föderation begründet haben (UA S. 7). Denn diese Ausführungen dienen der Begründung, warum den Klägern trotz ihrer vom Berufungsgericht festgestellten Ausbürgerung aus Aserbaidschan weiterhin Abschiebungsschutz in Bezug auf diesen Staat zu gewähren sei. Sie beziehen sich hingegen nicht auf den Gesichtspunkt der anderweitig erlangten Verfolgungssicherheit als Ausschlusstatbestand bei grundsätzlich fortbestehendem Flüchtlingsschutz in Bezug auf Aserbaidschan. Sie beziehen sich auch inhaltlich nicht auf die Sicherheit vor Verfolgung, sondern auf die fehlende Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in der Russischen Föderation. Das Unterlassen jeglicher Begründung, warum der erwähnte Aufenthalt keinen Schutz vor asylrelevanten Übergriffen bot, stellt einen Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO dar.

14 Auf die vom Bundesbeauftragten erhobenen Grundsatz- und Divergenzrügen und die weitere Verfahrensrüge kommt es danach nicht mehr an. Allerdings gibt die Zurückverweisung dem Berufungsgericht die Gelegenheit, die in der zweiten Verfahrensrüge (Beschwerdebegründung S. 8 f. unter b) angesprochenen Gründe für die Änderung seiner Rechtsprechung zur Asylrelevanz der Ausbürgerung von aserbaidschanischen Staatsangehörigen armenischer Volkszugehörigkeit darzulegen und sich in der gebotenen Weise mit der hiervon abweichenden Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. etwa OVG Schleswig, Urteil vom 6. Juli 2006 - 1 LB 94/02 - juris) auseinanderzusetzen.

15 Bei seiner erneuten Entscheidung im Rahmen des zurückverwiesenen Verfahrens wird das Berufungsgericht auch zu berücksichtigen haben, dass bei der Prüfung einer inländischen Fluchtalternative jetzt Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG und bei der Prüfung eines anderweitig erlangten Schutzes Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie zu beachten sind, nachdem die Umsetzungsfrist für die Richtlinie abgelaufen ist (vgl. Art. 38 Abs. 1). Hinsichtlich des anderweitig erlangten Schutzes folgt aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes aber auch, dass eine Flüchtlingsanerkennung in einem Zweit- oder Drittzufluchtsland nicht verlangt werden kann, wenn der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung tatsächlich sicher war und voraussichtlich auch sicher bleiben wird und wenn seine Rückführung oder Rückkehr in diesen Staat möglich ist (vgl. auch die Regelung in Art. 25 und Art. 26 der Richtlinie 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005, Amtsblatt vom 13. Dezember 2005, L 326/13 und Urteil vom 8. Februar 2005, a.a.O., 388).