Beschluss vom 11.12.2007 -
BVerwG 1 D 7.06ECLI:DE:BVerwG:2007:111207B1D7.06.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.12.2007 - 1 D 7.06 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:111207B1D7.06.0]

Beschluss

BVerwG 1 D 7.06

  • Bayer. VG Ansbach - 24.04.2006 - AZ: VG AN 6a D 04.00861

In dem Disziplinarverfahren hat der Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Dezember 2007
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller und Dr. Heitz
sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Thomsen
beschlossen:

  1. Auf die Berufung des Regierungsamtmanns ... wird das Urteil des Verwaltungsgerichts A. vom 24. April 2006 aufgehoben.
  2. Der Beamte ist eines Dienstvergehens schuldig; eine Disziplinarmaßnahme ist jedoch nicht angebracht.
  3. Das Verfahren wird eingestellt.
  4. Die Kosten des Verfahrens und die dem Beamten hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.

Gründe

I

1 1. Die Einleitungsbehörde hat dem am ... Beamten, der im Rahmen der ihm bewilligten Altersteilzeit seit dem 1. März 2007 vollständig vom Dienst freigestellt ist, mit Anschuldigungsschrift vom 13. Mai 2004 vorgeworfen, dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, dass er
1. in den Jahren 1997 bis 2000 sich in mindestens 114 Fällen nicht begründete Zeitvorteile in einem Umfang von mindestens 400 Stunden verschafft hat,
2. in den Jahren 1997 bis 2000 in insgesamt 50 Fällen unerlaubt dem Dienst ferngeblieben ist,
3. in den Jahren 1997 bis 2000 in insgesamt 174 Fällen die Zeiterfassungsanlage nicht vorschriftsmäßig bedient hat.

2 Durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts ... vom 25. November 2002 war der Beamte wegen Computerbetruges in 104 sachlich zusammentreffenden Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 85 Tagessätzen zu je 70 € verurteilt worden; im Übrigen, d.h. in 26 Fällen, war er freigesprochen worden. Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt ist u.a. Gegenstand des vorliegenden Disziplinarverfahrens.

3 Durch Bescheid vom 28. August 2003 in der Fassung ihres Widerspruchsbescheides vom 30. April 2004 hatte die Einleitungsbehörde, gestützt auf §§ 9, 12 BBesG, § 78 BBG, vom Beamten wegen schuldhaften Fernbleibens vom Dienst eine Teilsumme gezahlter Dienstbezüge in Höhe von 5 404,66 € zurückgefordert. Ein weiterer Teilbetrag in Höhe von 2 667,79 € war von der Behörde durch Bescheid vom 1. Juni 2004 in der Fassung ihres Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 2004 zurückgefordert worden. In den anschließenden Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht B. verpflichtete sich der Beamte im Rahmen eines am 22. Oktober 2004 geschlossenen Prozessvergleichs, an die Einleitungsbehörde zum Ausgleich der geltend gemachten Rückforderungen 4 036 € (die Hälfte der Gesamtrückforderungssumme) zu zahlen.

4 2. Das Verwaltungsgericht A. hat mit Urteil vom 24. April 2006 gegen den Beamten eine Gehaltskürzung um ein Zehntel auf die Dauer von 12 Monaten verhängt. Es hat zu den einzelnen Anschuldigungspunkten im Wesentlichen folgende Sachverhalte festgestellt und diese wie folgt disziplinarrechtlich gewürdigt:

5 Zu Anschuldigungspunkt 1:
Aufgrund der gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 BDO bindenden Feststellungen in dem rechtskräftigen Strafurteil des Amtsgerichts ... vom 25. November 2002 seien die in Anschuldigungspunkt 1 Teil 1 der Anschuldigungsschrift aufgelisteten 94 Fälle erwiesen; von den im Strafurteil festgestellten 104 Fällen waren nur 94 Fälle in die Anschuldigungsschrift übernommen worden.

6 Ferner hat das Verwaltungsgericht in den 20 angeschuldigten Fällen (Anschuldigungspunkt 1 Teil 2), in denen das Strafgericht den Beamten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen hatte, eine Pflichtverletzung angenommen. Das Strafgericht hatte in diesen - und sechs weiteren - Fällen seinen Freispruch darauf gestützt, dass insoweit unaufschiebbare Arztbesuche entweder vorgelegen hätten oder nicht ausgeschlossen werden könnten und daher eine rechtswidrige Bereicherungsabsicht nicht nachzuweisen sei. Das Verwaltungsgericht hielt auch in diesen Fällen eine Pflichtverletzung für erwiesen. Entgegen der Auffassung des Strafgerichts habe keine „Unaufschiebbarkeit“ vorgelegen. Insgesamt seien damit alle 114 Fälle erwiesen.

7 Zu Anschuldigungspunkt 2:
Vom Vorwurf, in 49 Fällen - ein Fall sei von der Einleitungsbehörde in der Hauptverhandlung zurückgenommen worden - durch vorschriftswidrige Betätigung der Taste „Dienstgang“ unerlaubt dem Dienst ferngeblieben zu sein, sei der Beamte freizustellen. Die beweispflichtige Einleitungsbehörde habe in ihrer nur kursorischen Anschuldigungsbegründung den Disziplinarvorwurf lediglich auf die Betätigung der Dienstgangtaste in Verbindung mit dem Fehlen eines Arztbesuchs gestützt. Die Behauptung des Beamten, zu den jeweiligen Terminen das Dienstgebäude tatsächlich zu dienstlichen Zwecken verlassen zu haben, sei nicht widerlegt worden. Dies beruhe unter anderem auf den mangelhaften Kontrollmaßnahmen der Behörde. Trotz gewichtiger Verdachtsmomente sei daher der Vorwurf insgesamt nicht erwiesen.

8 Zu Anschuldigungspunkt 3:
Von den in der Anschuldigungsbegründung erwähnten 176 Fällen der vorschriftswidrigen Bedienung der Zeiterfassungsanlage seien zur Überzeugung des Gerichts nur 12 Fälle nachgewiesen. Darüber hinaus sei die Anschuldigung nicht tragfähig. Wie die Vertreterin der Einleitungsbehörde in der Hauptverhandlung dargelegt habe, gehe es im Anschuldigungspunkt 3 insoweit nicht um den Vorwurf zusätzlicher Handlungen. Vielmehr würden hier dem Beamten insbesondere die in Anschuldigungspunkt 1 erwähnten Taten nochmals unter einem anderen disziplinarrechtlichen Gesichtspunkt als Pflichtverletzung angelastet.

9 Das Verwaltungsgericht hat die insgesamt 126 erwiesenen Handlungen als schuldhafte Verstöße gegen §§ 54 und 55 BBG gewertet, die ein einheitliches Dienstvergehen im Sinne des § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG darstellten, das mit einer Gehaltskürzung auf die Dauer von einem Jahr um ein Zehntel geahndet werden müsse.

10 3. Mit seiner unbeschränkt eingelegten Berufung macht der Beamte im Wesentlichen geltend, das erstinstanzliche Urteil sei schon insoweit fehlerhaft, als es im Anschuldigungspunkt 1 Teil 2 in tatsächlicher Hinsicht weitere 20 Fälle zu seinen Lasten berücksichtige. Das Strafgericht habe den Begriff „unaufschiebbar“ zu seinen, des Beamten, Gunsten interpretiert und ihn insoweit freigesprochen. Hiervon dürfe das Verwaltungsgericht nicht ohne weiteres abweichen.

II

11 Die Berufung des Beamten hat Erfolg und führt - unter Feststellung eines Dienstvergehens - zur Einstellung des Verfahrens.

12 Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, d.h. auch nach Inkrafttreten des Bundesdisziplinargesetzes am 1. Januar 2002 nach den Verfahrensregeln und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen, weil es vor dem 1. Januar 2002 förmlich eingeleitet worden ist (vgl. zum Übergangsrecht z.B. Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 - NVwZ 2002, 1515).

13 Der Senat hält es für gerechtfertigt, das Disziplinarverfahren gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1, § 76 Abs. 3 Satz 3, § 31 Abs. 4 Satz 5 BDO einzustellen. Diese Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss ergehen (vgl. zuletzt Beschluss vom 9. November 2000 - BVerwG 1 D 8.96 - juris, m.w.N., stRspr). Nach den genannten Vorschriften ist das Gericht befugt, mit Zustimmung des Bundesdisziplinaranwalts - nach Auflösung seiner Behörde mit Zustimmung der in seine Rechtsstellung eingetretenen Einleitungsbehörde (vgl. § 85 Abs. 4 BDG; dazu Urteil vom 20. Januar 2004 - BVerwG 1 D 33.02 - BVerwGE 120, 33 <44 f.>) - das Verfahren einzustellen, wenn es ein Dienstvergehen zwar für erwiesen (1.), nach dem gesamten Verhalten des Beamten eine Disziplinarmaßnahme aber nicht für angebracht hält (2.). Von beiden Voraussetzungen ist hier auszugehen. Die für eine Verfahrenseinstellung notwendige Zustimmung der Einleitungsbehörde liegt vor.

14 1. Aufgrund des vom Verwaltungsgericht im ersten Teil des Anschuldigungspunktes 1 festgestellten, von der Bindungswirkung des § 18 Abs. 1 Satz 1 BDO erfassten und vom Beamten nicht bestrittenen Sachverhalts geht der Senat davon aus, dass sich der Beamte jedenfalls in den (angeschuldigten) 94 Fällen durch vorsätzliche Verletzung seiner Dienstpflichten gemäß §§ 54, 55 Satz 2 BBG eines Dienstvergehens im Sinne des § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG schuldig gemacht hat.

15 Ob sich der Beamte darüber hinaus schuldhaft pflichtwidrig verhalten hat, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden. Denn die Anschuldigungsschrift, die bei einer unbeschränkten Berufung in vollem Umfang - auch soweit erstinstanzlich Freistellungen erfolgt sind - Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist, leidet insoweit an einer Reihe erheblicher, überwiegend heilbarer Mängel. Dies könnte zur Zurückverweisung der Sache gemäß § 85 Abs. 1 Nr. 3 BDO führen mit der Anregung an das Verwaltungsgericht, nach § 67 Abs. 4 BDO die Anschuldigungsschrift zwecks Mängelbeseitigung zurückzugeben; hinsichtlich der Einzelheiten wird insoweit auf Ziffer II.1. der den Beteiligten bekannten Verfügung des Senats vom 16. Oktober 2007 verwiesen.

16 2. Wegen der besonderen Umstände des Falles hält es der Senat aber für gerechtfertigt, sowohl von einer Zurückverweisung der Sache, als auch vom Ausspruch einer Disziplinarmaßnahme abzusehen.

17 Auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Anschuldigungsschrift dürfte ein Dienstvergehen voraussichtlich in geringerem Umfang anzunehmen sein als in den vom Verwaltungsgericht festgestellten 126 Fällen. Erwiesen sind derzeit nur die 94 Fälle im ersten Teil des Anschuldigungspunktes 1. Diese Pflichtverletzungen erscheinen nicht schwerwiegend (vgl. jetzt § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG). Ob es gelingen würde, in den 20 Fällen des strafrechtlichen Freispruchs (Anschuldigungspunkt 1 Teil 2) mit Erfolg einen disziplinarischen Überhang zur Anschuldigung zu bringen (vgl. dazu den von der Einleitungsbehörde und vom Verwaltungsgericht nicht beachteten § 17 Abs. 5 BDO, hierzu näher Ziffer II.1.b) der erwähnten Senatsverfügung), erscheint mehr als fraglich. Im Anschuldigungspunkt 2 neigt der Senat der disziplinarrechtlichen Bewertung des Verwaltungsgerichts - Freistellung - zu. Die Vorwürfe im Anschuldigungspunkt 3 haben schon nach der Einlassung der Vertreterin der Einleitungsbehörde ganz überwiegend kein eigenständiges disziplinarisches Gewicht.

18 Zwar käme zur abschließenden Klärung der Tatvorwürfe eine Zurückverweisung der Sache in Betracht, die jedoch gemäß § 85 Abs. 1 Nr. 3 BDO grundsätzlich im Ermessen des Senats steht. Angesichts der relativ geringen Bedeutung der noch nicht endgültig geklärten Anschuldigungspunkte und der Geltung des disziplinarrechtlichen Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. jetzt ausdrücklich § 4 BDG), hält der Senat eine solche Verfahrensweise aber nicht für geboten. Bereits jetzt ist eine den Beamten belastende lange Verfahrensdauer - Anordnung von Vorermittlungen im April 2000 - festzustellen. Es wäre völlig ungewiss, wann das Verfahren - nach Rückgabe der Anschuldigungsschrift, erneuter Entscheidung des Verwaltungsgerichts und gegebenenfalls erneuter Rechtsmitteleinlegung - zum rechtskräftigen Abschluss käme. Unter diesen Voraussetzungen erscheint eine Zurückverweisung für den Beamten unzumutbar.

19 Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls und unter Würdigung des Gesamtverhaltens und der Persönlichkeit des Beamten hält es der Senat - mit Zustimmung der Einleitungsbehörde - vielmehr für angebracht, das Verfahren ohne Ausspruch einer Disziplinarmaßnahme abzuschließen. Dafür lassen sich neben der bereits erwähnten „Schwere“ des Dienstvergehens und der Verfahrensdauer insbesondere noch folgende Bemessungsgesichtspunkte anführen: Die Verfehlungen liegen schon jetzt sieben bis zehn Jahre zurück. Der Beamte ist im Hinblick auf Anschuldigungspunkt 1 wegen 104 Fällen bereits zu einer Gesamtgeldstrafe von insgesamt 5 950 € verurteilt worden (vgl. dazu auch § 14 BDO/BDG). Daneben haben sich die Beteiligten im Rahmen eines Prozessvergleichs auf eine Rückforderungssumme der Behörde in Höhe von insgesamt 4 036 € geeinigt. Der disziplinarisch nicht vorbelastete, jetzt 63-jährige Beamte kann auf eine lange Dienstzeit zurückblicken. Aufgrund der ihm bewilligten Altersteilzeit ist er bereits seit Monaten vollständig vom Dienst freigestellt und wird Ende August 2009 in den Ruhestand treten. Ein spezialpräventives Pflichtenmahnungsbedürfnis gerade im Hinblick auf die ordnungsgemäße Erfüllung von Dienstleistungspflichten besteht daher nicht mehr.

20 Die Kostenentscheidung beruht auf § 113 Abs. 4 und § 115 Abs. 1 BDO.