Beschluss vom 11.06.2004 -
BVerwG 7 B 4.04ECLI:DE:BVerwG:2004:110604B7B4.04.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 11.06.2004 - 7 B 4.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:110604B7B4.04.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 4.04

  • VG Greifswald - 01.10.2003 - AZ: VG 5 A 1029/97

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Juni 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht S a i l e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht K r a u ß und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 1. Oktober 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.

I


Die beigeladene Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben wendet sich gegen ein Urteil, mit dem die beklagte Behörde verpflichtet wird, festzustellen, dass die klagende Antonie von Siemens-Stiftung Berechtigte hinsichtlich eines Grundstücks ist und von der Beigeladenen die Zahlung des Erlöses aus dessen investiver Veräußerung verlangen kann. Die Stiftung war 1915 von den Eheleuten Karl Friedrich und Antonie von Siemens errichtet worden. Sie betrieb auf dem - auf der Insel Usedom gelegenen - Grundstück ein Erholungsheim. Zweck der Stiftung war es, Industriearbeiterinnen einen Erholungsurlaub kostenlos oder gegen einen geringen Betrag zu gewähren. Dabei sollte in erster Linie Siemens-Mitarbeiterinnen die Benutzung gewährt werden. Das Grundstück wurde nach dem Zweiten Weltkrieg entschädigungslos enteignet. Die Beteiligten streiten darüber, ob diese Enteignung besatzungshoheitlich im Sinne des § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG war. Das Verwaltungsgericht hat dies verneint und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Beigeladenen.

II


Die Beschwerde ist unbegründet. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, vgl. 1.), noch beruht das angefochtene Urteil auf einer Abweichung von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, vgl. 2.), noch liegt ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, vgl. 3.).
1. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache nur dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden klärungsbedürftigen entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. Daran fehlt es hier:
Die Beschwerde hält zunächst für klärungsbedürftig die Frage,
welche Auswirkungen die (besatzungshoheitliche) Enteignung der Konzernmutter auf die Tochterunternehmen hat.
Diese Frage ist im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich. Die klagende Stiftung ist kein Tochterunternehmen des Siemens-Konzerns gewesen. Sie diente nicht unternehmerischen Zielen. Der Siemens-Konzern hatte auch nicht etwa die Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen gegenüber seinen Mitarbeiterinnen auf die Stiftung übertragen. Vielmehr erbrachte die Stiftung freiwillige Leistungen, nämlich die zur Verfügungsstellung einer kostenlosen bzw. sehr preisgünstigen Erholungsmöglichkeit für Industriearbeiterinnen, zu der weder sie noch der Siemens-Konzern verpflichtet war. Auch war die Stiftung nicht aus dem Konzern oder einem Konzernunternehmen ausgegliedert worden. Vielmehr wurde sie von Großaktionären des Konzerns bzw. von deren Familienmitgliedern gegründet. Dass die Stiftung enge Verbindungen zu dem Konzern hatte (u.a. Verwaltung, Bestellung von Stiftungs-Vorständen), macht sie nicht zu dessen Tochterunternehmen.
Ob eine derartige Stiftung allein oder im Zuge der Enteignung eines Konzerns besatzungshoheitlich enteignet wurde, ist eine Frage des Einzelfalls. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht geklärte Fragen rechtsgrundsätzlicher Art, die man möglicherweise dem Beschwerdevorbringen sinngemäß entnehmen könnte, stellen sich in diesem Zusammenhang nicht.
Die weitere von der Beschwerde gestellte Frage,
wann auf der Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 64 i.V.m. den Richtlinien Nr. 1 bis 3 bei der Enteignung von Konzernunternehmen auch eine Enteignung der Konzernmutter anzunehmen ist,
ist hier ebenfalls nicht entscheidungserheblich. Denn darauf, ob die Konzernmutter besatzungshoheitlich enteignet worden ist, kommt es - wie sich aus obigen Ausführungen ergibt - nicht an.
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegt nur vor, wenn die Vorinstanz mit einem inhaltlich bestimmten, seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Dies ist nicht der Fall:
In der von der Beschwerde angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 4. November 2002 - BVerwG 7 B 70.02 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 23) wird - unter Bezugnahme auf die vorliegende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - ausgeführt, dass die in Nr. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinien Nr. 1 zur Ausführung des SMAD-Befehls Nr. 64 angeordneten Erstreckungsregelungen die Gesamtheit der einem enteigneten Unternehmen zuzuordnenden Vermögenswerte einschließlich aller wirtschaftlich zusammenhängenden Betriebsstätten unabhängig von einem weiteren tatsächlichen Eigentumszugriff erfassten und damit zu deren Enteignung führten. Nach Nr. 2 Abs. 1 der Richtlinien Nr. 1 sollten sich die Enteignungen wirtschaftlicher Unternehmungen über das bilanzierte Vermögen hinaus überhaupt auf das den betrieblichen Zwecken dienende Vermögen einschließlich aller Rechte und Beteiligungen erstrecken, soweit nicht die Beschlüsse der Landesbodenkommissionen ausdrücklich etwas anderes bestimmten. Diese Erstreckungswirkung trat - nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - ein, ohne dass es hierfür eines Enteignungsauftrags, eines weiteren Vollzugsakts oder einer vorherigen Sequestration bedurfte.
Von dieser Rechtsprechung ist das Verwaltungsgericht nicht abgewichen. Vielmehr ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass die klagende Stiftung kein Vermögenswert des Siemens-Konzerns bzw. eines zu diesem Konzern gehörenden Unternehmens war und dass es sich bei der Stiftung nicht um eine Betriebsstätte und auch nicht um sonstiges den betrieblichen Zwecken dienendes Vermögen gehandelt hat.
Die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts war somit nicht einschlägig. Deshalb kam es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. u.a. das von der Beschwerde zitierte Urteil vom 28. Januar 1999 - BVerwG 7 C 10.98 - Buchholz 428 § 1 Abs. 8 VermG Nr. 1) für die Beantwortung der Frage, ob und wann eine Enteignung erfolgte, darauf an, ob überhaupt und gegebenenfalls wann die Vermögensentziehung in der Rechtswirklichkeit greifbar zum Ausdruck kam und sich der frühere Eigentümer als vollständig und endgültig aus seinem Eigentum verdrängt betrachten musste. Von dieser Rechtsprechung geht das Verwaltungsgericht aus.
Zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Stiftung nicht um betrieblich genutztes Vermögen bzw. einen Betriebsteil bzw. eine Betriebsstätte des Siemens-Konzerns oder eines zu diesem Konzern gehörenden Unternehmens gehandelt hat, ist das Verwaltungsgericht - entgegen der Auffassung der Beschwerde - ebenfalls gelangt, ohne von der bezeichneten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abzuweichen. Mit den Richtlinien Nr. 1 wurde - wie in der angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ausgeführt wird - der Entzug der in den bestätigten Enteignungslisten verzeichneten Unternehmen jeweils auf das gesamte Betriebsvermögen und auf sämtliche Unternehmensteile im weitesten Sinne ausgedehnt. Einen davon abweichenden Rechtssatz hat das Verwaltungsgericht nicht aufgestellt. Vielmehr ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass die Stiftung nicht Betriebsvermögen und auch nicht Unternehmensteil im weitesten Sinne war.
3. Schließlich liegt kein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
a) Der Anspruch der Beigeladenen auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO) ist nicht verletzt.
Das angefochtene Urteil ist keine Überraschungsentscheidung. Eine solche läge nur vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hätte und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hätte, mit der insbesondere der unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 210 § 108 VwGO Nr. 235). Dass dies geschehen ist, trägt die Beschwerde nicht vor. Vielmehr macht sie geltend, Unterschiede in der Begründung zwischen dem vor der mündlichen Verhandlung erstellten - bei den Akten befindlichen - Gutachten des Berichterstatters und der Entscheidung hätten zu einer wesentlichen Veränderung der Prozesslage geführt. Dies macht das angefochtene Urteil nicht zu einer Überraschungsentscheidung. Insoweit ist es ohne Bedeutung, welchen Inhalt ein gerichtsinternes Gutachten hat. Die Beschwerde trägt auch nicht vor, dass das Urteil im Hinblick auf die Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung überraschend ist.
Das Verwaltungsgericht musste weder erneut mündlich verhandeln noch die Beteiligten vor seiner Entscheidung darauf hinweisen, dass es nunmehr entscheiden wird, und den Beteiligten eine Frist für weiteres Vorbringen setzen. Die Beteiligten hatten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Gerichts ohne weitere mündliche Verhandlung erklärt (§ 101 Abs. 2 VwGO). Auch im schriftlichen Verfahren muss das Gericht selbstverständlich den Beteiligten rechtliches Gehör gewähren. Es muss den Sachvortrag der Beteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen. Ihm ist es verwehrt, die Entscheidung auf rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte zu stützen, die nicht in das Verfahren eingeführt worden sind. Bei einem Verzicht auf mündliche Verhandlung und neuem Vortrag der Beteiligten erfordert der Anspruch auf rechtliches Gehör aber nicht, ohne entsprechende Anträge der Beteiligten die Entscheidungsbasis durch eine weitere mündliche Verhandlung zu verbreitern. Ebenso wenig ist das Gericht gehalten, die Beteiligten zu etwaigem abschließendem Vortrag aufzufordern. Aufgrund des Verzichts auf mündliche Verhandlung können und müssen die Beteiligten davon ausgehen, dass ergänzender Sachvortrag nur durch Einreichung von Schriftsätzen möglich ist. Beabsichtigt ein Beteiligter einen derartigen (hier weiteren) schriftlichen Vortrag, kann er aber den Schriftsatz nicht alsbald einreichen, muss er dies dem Gericht mitteilen. Solange das - wie hier - nicht geschehen ist, kann das Gericht ohne weiteres abschließend entscheiden (vgl. Beschluss vom 25. September 1990 - BVerwG 9 B 115.90 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 233).
b) Eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) wird nicht prozessordnungsgemäß dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
Die Beschwerde meint, dem Verwaltungsgericht hätte sich die Beiziehung der Verwaltungsvorgänge zum Männererholungsheim Koserow und zum Eleonorenheim Neuhof aufdrängen müssen. Es wird aber nicht dargelegt, welche hier entscheidungserheblichen Tatsachen sich aus diesen Vorgängen hätten ergeben können. Der allgemeine Hinweis, dass sich hieraus für das anhängige Verfahren erhebliche Umstände ergeben können, genügt nicht.
Unsubstantiiert ist der Vortrag der Beschwerde, es hätte sich dem Verwaltungsgericht aufdrängen müssen, eine "Aufforderung zur Klarstellung" an die Klägerin zu richten. Wozu sich die Klägerin im Einzelnen hätte klarstellend äußern sollen, wird von der Beschwerde aber nicht dargelegt.
c) Schließlich hat das Verwaltungsgericht den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO) nicht verletzt.
Die Beschwerde macht zunächst allgemeine Ausführungen zum Überzeugungsgrundsatz. Anschließend kritisiert sie im Stil einer Berufungsbegründung die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung in mehreren Punkten, ohne darzulegen (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), worin im Einzelnen der Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz liegen soll. Im Einzelnen ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:
Soweit die Beschwerde rügt, der Schluss des Verwaltungsgerichts aus der zeitlichen Abfolge der Entscheidung der Sequestrationskommission und des Erlasses der Richtlinien Nr. 1 sei fehlerhaft, wird nicht prozessordnungsgemäß dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), worin die Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes liegen soll.
Weiter meint die Beschwerde, das Verwaltungsgericht habe die persönliche Identität der Beteiligten nicht berücksichtigt, die darin bestanden habe, dass dieselben Personen Vorstandsmitglieder eines Siemensunternehmens und Vorstandsmitglieder der Stiftung gewesen seien. Dies verletzt den Überzeugungsgrundsatz schon deshalb nicht, weil - wie die Beschwerde selbst einräumt - das Verwaltungsgericht -, ohne sämtliche Einzelheiten in den Tatbestand seiner Entscheidung aufzunehmen - die "Verknüpfung" der Stiftung mit dem Siemens-Konzern bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat.
Auch wenn eine enge Beziehung der Stiftung zu dem Konzern bzw. zu dessen Unternehmen bestand, ist nicht ersichtlich, wieso die Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts, die u.a. darauf gestützt werden, dass die Stiftung weder von dem Konzern bzw. einem dazugehörigen Unternehmen gegründet wurde, noch dass sie eine Verpflichtung des Konzerns bzw. eines Konzern-Unternehmens erfüllte, den Überzeugungsgrundsatz verletzen sollen.
Dass das Männererholungsheim Koserow unmittelbar an den Konzern angebunden war, wird in dem angefochtenen Urteil erwähnt. Das Verwaltungsgericht hat daraus nicht den Schluss gezogen, für die Stiftung und das von dieser betriebene Erholungsheim müsste das Gleiche gelten wie für das Männererholungsheim. Dies ist nicht denkgesetzwidrig und verletzt auch sonst nicht den Überzeugungsgrundsatz.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 2. Halbsatz VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 3 GKG.