Beschluss vom 10.03.2003 -
BVerwG 7 B 98.02ECLI:DE:BVerwG:2003:100303B7B98.02.0

Beschluss

BVerwG 7 B 98.02

  • VG Chemnitz - 02.05.2002 - AZ: VG 9 K 1791/98

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. März 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
S a i l e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
H e r b e r t und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 2. Mai 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 255 646 € festgesetzt.

I


Der Kläger begehrt die vermögensrechtliche Rückübertragung eines Grundstücks. Eigentümerin des Grundstücks war seit 1936 eine Erbengemeinschaft, bestehend aus drei Miterben, zu denen der Rechtsvorgänger des Klägers gehörte. Eine Miterbin wurde im Jahre 1946 mit anderen ihr gehörenden Grundstücken im Zuge der Bodenreform enteignet. Auf der dabei aufgestellten Liste ist das hier streitige Grundstück nicht verzeichnet. Diese Miterbin verstarb 1946 und wurde von den beiden verbliebenen Miterben beerbt, die insoweit 1954 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen wurden. Im Juni 1957 wurde im Grundbuch eingetragen, dass die jeweiligen Miteigentumsanteile der verbliebenen Miterben aufgrund der Verordnung über die landwirtschaftliche Bodenreform in Volkseigentum übergegangen sind.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Rückübertragung des Grundstücks an die Erbengemeinschaft abgewiesen: Das Grundstück sei auf besatzungshoheitlicher Grundlage enteignet worden (§ 1 Abs. 8 Buchst. a VermG). Die Erbengemeinschaft habe sich schon während der sowjetischen Besatzungszeit vollständig und endgültig aus ihrem Eigentum verdrängt fühlen müssen. Das streitige Grundstück habe einen wirtschaftlichen Bezug zu dem enteigneten Gut aufgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

II


Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Klägers ist begründet. Das Verwaltungsgericht ist zwar nicht im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts abgewichen, die der Kläger in seiner Beschwerde bezeichnet hat (1.). Das angefochtene Urteil beruht aber auf einem zumindest sinngemäß gerügten Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.).
1. Das angefochtene Urteil weicht nicht von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 1998 - BVerwG 7 C 34.97 - (Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 166) ab.
a) Wie der Kläger zutreffend darlegt, enthält die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zwar den Rechtssatz, dass es für den Zeitpunkt der Enteignung maßgeblich darauf ankommt, wann die Enteignung des jeweiligen Vermögenswertes in der Rechtswirklichkeit erstmals greifbar zum Ausdruck kam. Das Verwaltungsgericht hat aber keinen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt, sondern diesen Rechtssatz seiner Entscheidung ausdrücklich zugrunde gelegt. Es hat jedoch bei der Anwendung des Rechtssatzes auf den konkreten Fall den Umständen keine
entscheidende Bedeutung beigemessen, dass das streitige Grundstück nicht im Zuge der Bodenreform aufgeteilt worden ist und die Erbengemeingemeinschaft noch bis 1957 als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen blieb. Der Kläger meint jedoch, das Verwaltungsgericht hätte aus diesen Umständen den Schluss ziehen müssen, dass die Erbengemeinschaft sich nicht schon deshalb auch aus ihrem Eigentum an dem streitigen Grundstück endgültig und vollständig verdrängt sehen musste, weil andere Grundstücke einer Miterbin im Zuge der Bodenreform enteignet und aufgeteilt worden waren. Damit ist lediglich eine fehlerhafte Anwendung des für sich nicht in Frage gestellten Rechtssatzes auf den Einzelfall geltend gemacht. Sie erfüllt nicht die Vo-
raussetzungen einer Abweichung im Verständnis von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO. Das erwähnte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts enthält auch keinen abstrakten Rechtssatz des Inhalts, dass eine fortdauernde Eintragung des früheren Eigentümers im Grundbuch und die unterbliebene Aufteilung eines Grundstücks im Zuge der Bodenreform stets die Annahme ausschließt, der Eigentümer habe sich bereits mit dem Zugriff auf seinen landwirtschaftlichen Besitz im Übrigen auch wegen dieses Grundstücks endgültig aus seinem Eigentum verdrängt sehen müssen.
b) Wie der Kläger ebenfalls zutreffend darlegt, enthält die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts den Rechtssatz, dass der bodenreformrechtliche Zugriff auf das Eigentum an einem Landgut sich nicht auf die Vermögenswerte des Enteigneten erstreckte, die keinen wirtschaftlichen Bezug zu dem Gut aufwiesen. Das angefochtene Urteil enthält aber entgegen der Darstellung des Klägers nicht davon abweichend den Rechtssatz, der Eigentumsentzug nach den Vorschriften über die Bodenreform habe sich immer auf den gesamten Grundbesitz der Betroffenen erstreckt, unabhängig davon, ob einzelne Grundstücke noch einen wirtschaftlichen Bezug zu dem enteigneten Gut
aufwiesen. Das Verwaltungsgericht geht vielmehr ausdrücklich davon aus, die Erbengemeinschaft hätte sich nur dann schon durch den bodenreformrechtlichen Zugriff auf das Eigentum einer Miterbin auch aus dem Eigentum an dem streitigen Grundstück verdrängt sehen müssen, wenn dieses Grundstück einen wirtschaftlichen Bezug zu dem enteigneten Gut aufwies. Das Verwaltungsgericht stellt einen solchen Bezug fest. Die dafür gegebene Begründung mag unzulänglich sein. Darin liegt aber nur eine fehlerhafte Anwendung des als solchen nicht in Frage gestellten Rechtssatzes auf den Einzelfall. Dasselbe gilt, soweit der Kläger in diesem Zusammenhang geltend macht, das Verwaltungsgericht hätte den Bezug zur Landwirtschaft verneinen müssen, weil das streitige Grundstück brach lag und bebaubar war.
c) Das Verwaltungsgericht ist schließlich nicht von dem Rechtssatz abgewichen, dass der bodenreformrechtliche Eigentumszugriff anders als die Enteignung "sonstigen Vermögens" nicht ausschließlich an tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten des Eigentümers anknüpfte und darüber hinaus von seiner spezifischen Zielrichtung her sachlich beschränkt war. Das Verwaltungsgericht hat zwar erwähnt, dass die Miterbin in der Liste der im Zuge der Bodenreform Enteigneten als aktive Verfechterin der Nazipartei bezeichnet war. Es hat daraus aber nicht den Schluss gezogen, dass deshalb der bodenreformrechtliche Zugriff auf ihr Eigentum über das landwirtschaftliche Vermögen hinaus sämtlichen Grundbesitz erfasst habe, auch wenn dieser einen wirtschaftlichen Bezug zu der Landwirtschaft nicht aufwies. Das Verwaltungsgericht ist vielmehr im Anschluss an die zitierte Bemerkung der Frage eines solchen wirtschaftlichen Bezugs nachgegangen.
2. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 VwGO. Diesen Verfah-
rensfehler hat der Kläger zumindest sinngemäß mit seiner Verfahrensrüge geltend gemacht und dargelegt.
Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die "Freiheit", die diese Vorschrift dem Tatsachengericht zugesteht, bezieht sich auf die Bewertung von Tatsachen und Beweisergebnissen. Der Überzeugungsgrundsatz kann aber nicht für eine Würdigung in Anspruch genommen werden, die im Vorgang der Überzeugungsbildung an einem Fehler leidet. Ein solcher Fehler liegt vor, wenn das Gericht Tatsachen berücksichtigt, die sich weder auf ein Beweisergebnis noch sonst wie auf den Akteninhalt stützen lassen (Beschluss vom 26. Mai 1999 - BVerwG 8 B 193.98 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 4).
Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Erbengemeinschaft habe sich auch bezogen auf das streitige Grundstück schon während der Besatzungszeit endgültig und vollständig aus ihrem Eigentum verdrängt sehen müssen, weil dieses Grundstück einen wirtschaftlichen Bezug zu dem im Zuge der Bodenreform enteigneten Gut aufwies. Das Verwaltungsgericht hat aber keine tatsächlichen Umstände ermittelt und festgestellt, aus dem sich dieser wirtschaftliche Bezug zu einem in der Bodenreform enteigneten Gut ergibt. Das Verwaltungsgericht begnügt sich letztlich damit, die Umstände als unerheblich abzutun, die gegen eine Zugehörigkeit des Grundstücks zu einem enteigneten landwirtschaftlichen Besitz sprachen. Das Verwaltungsgericht stellt ausdrücklich fest, dass das streitige Grundstück abseits der großen landwirtschaftlichen Flächen lag, welche die Erbengemeinschaft in ... besaß. Das streitige Grundstück lag nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts vielmehr im Stadtgebiet von ..., umgeben von Wohnbebauung
und einem Gewerbegebiet. Wie sich aus den weiteren Feststellungen des Verwaltungsgerichts ergibt, wurde dieses Grundstück auch tatsächlich nicht landwirtschaftlich genutzt, sondern lag brach. Das Verwaltungsgericht geht ersichtlich von dem Vortrag des Klägers aus, dass es sich bei diesem Grundstück um Bauland gehandelt hat. Als solches hat die Erbengemeinschaft einen Teil des Grundstücks noch Anfang der fünfziger Jahre veräußern können, wie der Kläger vorgetragen hat. Das Verwaltungsgericht stellt auf die Größe des Grundstücks von knapp 3000 qm ab. Dieser Umstand ist aber unergiebig. Ein Grundstück solcher Größe ist zwar landwirtschaftlich nutzbar, kann aber auch eine städtische Baulücke darstellen. Letztlich begnügt das Verwaltungsgericht sich mit der abstrakten Nutzbarkeit zu landwirtschaftlichen Zwecken, die aber nichts Entscheidendes für die konkrete Zugehörigkeit zu einem bestimmten landwirtschaftlichen Betrieb hergibt.
Im Übrigen bleibt unklar, von welchem Gut das Verwaltungsgericht dabei ausgeht. Nach den getroffenen Feststellungen ist eine Miterbin, Frau ..., mit ihr gehörenden Grundstücken im Zuge der Bodenreform enteignet worden. Diese in einer Liste erfassten Grundstücke haben aber insgesamt nur eine Größe von etwa 1,8 ha. Ob das Verwaltungsgericht diesem Besitz wirtschaftlich auch das hier streitige Grundstück der Erbengemeinschaft zuordnen will, ist nicht eindeutig. Das Verwaltungsgericht weist nämlich ferner darauf hin, der Erbengemeinschaft habe Grundbesitz von mehr als 100 ha gehört. Ob es sich dabei um ein Hofgut gehandelt hat und dieses im Zuge der Bodenreform enteignet wurde, ist aber nicht konkret festgestellt. Das Verwaltungsgericht erwähnt nur, einzelne Flurstücke seien im Zuge der Bodenreform aufgeteilt worden. Dabei handelt es sich aber offenbar nur um die schon erwähnten einzelnen Grundstücke, die der Miterbin ... gehörten.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, wegen des Verfahrensfehlers die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.