Beschluss vom 08.04.2009 -
BVerwG 2 B 81.08ECLI:DE:BVerwG:2009:080409B2B81.08.0

Beschluss

BVerwG 2 B 81.08

  • Hamburgisches OVG - 05.09.2008 - AZ: OVG 11 Bf 321/07.F

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. April 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Groepper und Dr. Burmeister
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. September 2008 wird zurückgewiesen.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten gegen das Urteil, durch das das Verwaltungsgericht den Beklagten im Wege der Zurückstufung in das Amt eines Technischen Postamtsrats versetzt hat, als unbegründet zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hält es für erwiesen, dass der Beklagte ein Dienstvergehen begangen hat, indem er sich zwischen Mai 2002 und Mai 2003 24 Bilder kinderpornographischen Inhalts beschafft und diese besessen hat.

2 Vor diesem Hintergrund macht die Beschwerde zwei Verfahrensfehler geltend, auf denen das angegriffene Urteil beruhe:

3 Zum einen habe das Berufungsgericht zu Unrecht den Antrag abgelehnt, zum Beweis der Tatsache der Einschränkung der Steuerungsfähigkeit im Tatzeitraum und der Einsichtsfähigkeit ein Sachverständigengutachten einzuholen. Zum anderen habe das Gericht die Vorschriften über die Öffentlichkeit verletzt.

4 1. Zur ersten Rüge trägt der Beklagte vor, es hätten Anhaltspunkte für eine verschuldensrelevante Persönlichkeitsstörung oder Erkrankung vorgelegen, denen das Gericht hätte nachgehen müssen. Die in einer von ihm vorgelegten Rechnung enthaltene Diagnose „Verdacht auf Anpassungsstörung ICD-10 F 43.2 “ hätte einer Begutachtung bedurft. Der Diagnoseschlüssel, auf den sich das Berufungsgericht bezogen habe und demzufolge die damit erfassten Symptome nicht länger als sechs Monate nach der Belastung oder ihrer Folgen andauern, diene lediglich der statistischen Erfassung von Krankheiten und Gesundheitsproblemen und könne weder ein medizinisches Lehrbuch noch ein Sachverständigengutachten ersetzen. Hätte das Gericht den Beweis erhoben, so hätte sich ergeben, dass der Beklagte im Tatzeitraum in seiner Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei. Dies hätte mindestens zu einer milderen Disziplinarstrafe geführt. In einem weiteren Strafverfahren gegen den Beklagten sei das auch dort beantragte Sachverständigengutachten eingeholt worden.

5 Diese Rüge greift nicht durch.

6 Wie sich aus der Niederschrift über die Berufungsverhandlung (GA Bl. 216 f.) ergibt, hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten in der Sitzung des Berufungsgerichts vom 5. September 2008 beantragt, „zum Beweise der Tatsache einer Einschränkung der Steuerungsfähigkeit im Tatzeitraum und der Einsichtsfähigkeit ein Sachverständigengutachten einzuholen“, und zur Begründung ausgeführt, die Diagnose „Verdacht auf Anpassungsstörung ICDS ICD 10 F 43.2 .“ sei als möglicher Indikator für eine solche Beeinträchtigung zu sehen; eine solche konkrete Störung sei im Einzelfall mit Hilfe eines Sachverständigen aufzuklären. Das Berufungsgericht hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, es handele sich um einen unzulässigen Ausforschungsantrag. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass der Beklagte im Tatzeitraum an einer Persönlichkeitsstörung oder Erkrankung gelitten haben könnte, die seine Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt oder ausgeschlossen haben könnten. Die damalige schwierige familiäre Situation des Beklagten reiche dafür nicht aus. Auch die vorgelegten Arztrechnungen ergäben keinen Hinweis, und zwar auch nicht unter Berücksichtigung des vom Beklagten angeführten Diagnoseschlüssels und der darin enthaltenen diagnostischen Kriterien. Den Diagnoseschlüssel habe das Gericht beigezogen. In den Urteilsgründen heißt es zu dieser Frage (UA S. 18 f.), es lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Möglichkeit vor, der Beklagte könne sich die kinderpornographischen Bilder im Zustand der Schuldunfähigkeit verschafft haben. Der in einer Rechnung vom Juni 2008 verzeichnete Verdacht auf eine Anpassungsstörung sei kein geeigneter Anhaltspunkt, weil nach den zu dieser Schlüsselzahl gehörenden diagnostischen Kriterien die Symptome nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen andauerten. Ebenso sei nicht ersichtlich (UA S. 23), dass der Schuldvorwurf infolge einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 i.V.m. § 20 StGB abzumildern wäre. Es sei schon kaum nachvollziehbar, inwiefern familiäre Konfliktsituationen wie die vom Beklagten angedeuteten Auseinandersetzungen zwischen seiner Ehefrau und deren Tochter, verbunden mit der berufsbedingten Notwendigkeit, eine Wochenendbeziehung zu führen, in der Lage sein sollten, die Einsicht in die Unrechtmäßigkeit gerade des hier in Rede stehenden Handelns oder die Fähigkeit zur Steuerung herabzusetzen.

7 Bei der Frage, ob das Berufungsgericht seine Aufklärungspflicht verletzt hat, ist von der materiellrechtlichen Betrachtung des Gerichts auszugehen (vgl. Beschluss vom 24. September 1996 - BVerwG 1 B 165.96 - NVwZ 1997, 501, stRspr). Das Berufungsgericht hat unter Bezugnahme auf die Entscheidung des beschließenden Senats vom 29. Mai 2008 - BVerwG 2 C 59.07 - (Buchholz 235.1 § 70 BDG Nr. 3) ausgeführt, eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setze voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt gewesen sei. Für die Steuerungsfähigkeit komme es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt gewesen sei, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich entgegenzusetzen vermocht habe. Für die Annahme einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit seien schwerwiegende Gesichtspunkte heranzuziehen wie etwa Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen, leichtere Formen des Schwachsinns, altersbedingte Persönlichkeitsveränderungen, Affektzustände sowie Folgeerscheinungen einer Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Dementsprechend hänge im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB von der Bedeutung und Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab.

8 Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung war das Berufungsgericht nicht gehalten, dem Beweisantrag des Beklagten nachzugehen. Der Beklagte hatte sich für den von ihm geäußerten Verdacht selbst auf die von ihm in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht überreichten drei Arztrechnungen (GA Bl. 219 - 221) bezogen. In diesen findet sich die im Beweisantrag genannte Diagnose nicht. Die Rechnung von Dr. G. vom 11. Juni 2008 nennt als Diagnose „Verdacht auf Anpassungsstörung“, die Rechnung des Universitätsklinikums vom 9. Juli 2008 nennt als Diagnose: „ICD10: G F48.9 Neurotische Störung, nicht näher bezeichnet“ und die Rechnung von Dr. Ge. vom 27. August 2008 „Mittelgradige depressive Episode“. Dies ist auch im Verhandlungsprotokoll so festgehalten (GA Bl. 215). Für die im Beweisantrag genannte Diagnose „Verdacht auf Anpassungsstörung ICDS ICD 10 F 43.2 “ lagen mithin nicht einmal greifbare Anhaltspunkte vor. Die in den Rechnungen genannten Störungen legten keineswegs die Möglichkeit nahe, dass sich der Beklagte im Tatzeitraum - also im Zeitraum vom 29. November 2002 bis zum 16. Mai 2003, mithin mehr als fünf Jahre früher - in einem Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit befunden haben konnte. Unter diesen Umständen liegt kein Verfahrensfehler darin, dass das Berufungsgericht diesem Beweisantrag nicht entsprochen hat.

9 Hiervon abgesehen hat sich das Berufungsgericht in einer nicht zu beanstandenden Weise mit der im Beweisantrag enthaltenen Behauptung auseinandergesetzt, der Beklagte leide an einer Anpassungsstörung im Sinne der Nr. F 43.2 der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen - klinisch-diagnostische Leitlinien - (ICD 10 Kapitel V der Weltgesundheitsorganisation). Es hat dabei zutreffend ausgeführt, dass die unter dieser Nummer aufgeführten Störungen eine Zeitdauer von sechs Monaten, bei länger anhaltenden Belastungssituationen von zwei Jahren nicht überschreiten, und daraus den aus Rechtsgründen nicht zu beanstandenden Schluss gezogen, dass selbst eine Bestätigung dieser Diagnose durch einen Gutachter nicht den Nachweis zu erbringen vermöchte, dass sich der Beklagte bereits fünf Jahre früher in einem solchen Zustand befand. Zu der von der Beschwerde herangezogenen Kommentarstelle (Fischer, in: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 56. Aufl., Rn. 41 zu § 20 StGB) ist zu sagen: Die Stelle bezieht sich auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 4. November 2003 - 1 StR 384/03 - (NStZ-RR 2004, 70), in welchem der Bundesgerichtshof ausgeführt hatte, selbst bei positiver Annahme einer solchen Störung liege es nicht nahe, dass diese zu einer schweren seelischen Abartigkeit im Sinne des Eingangsmerkmals des § 20 StGB geführt haben könnte. Wenn das Strafgericht gleichwohl zu dieser Annahme gekommen sei, hätte dies der näheren Darlegung und Begründung bedurft. Auch eine erhebliche Verringerung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sei mit der sachverständigen Diagnose einer relativ-depressiven Verstimmung nicht hinreichend dargetan. Der Entscheidung ist nicht der Rechtssatz zu entnehmen, die bloße Behauptung einer solchen Störung zwinge das Gericht zu einer entsprechenden Beweisaufnahme.

10 2. Mit seiner zweiten Rüge macht der Beklagte geltend, im Berufungsverfahren sei seinem Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit nicht sofort, sondern erst im weiteren Verlauf ohne erneute Beratung entsprochen worden. Hätte das Berufungsgericht seinem Antrag unmittelbar entsprochen, hätte er sich ausführlicher zu seiner Intimsphäre geäußert; hierdurch hätten sich weitere Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine Einschränkung seiner Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit im Tatzeitraum vorgelegen habe. Der Frage, ob auch im Disziplinarverfahren eine Revision darauf gestützt werden könne, dass die Öffentlichkeit zu Unrecht nicht ausgeschlossen worden sei, komme zudem grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu.

11 Der geltend gemachte Verfahrensfehler lässt sich nicht feststellen.

12 Anders als im früheren Disziplinarrecht (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 1 BDO) finden die unter der Geltung des Bundesdisziplinargesetzes durchgeführten Verhandlungen grundsätzlich in öffentlicher Sitzung statt. Dies ergibt sich aus § 3 BDG, der die entsprechende Anwendung der Verwaltungsgerichtsordnung anordnet, soweit deren Bestimmungen zu den Bestimmungen des Bundesdisziplinargesetzes nicht im Widerspruch stehen und soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Nach § 55 VwGO i.V.m. § 169 Satz 1 GVG sind die Verhandlungen öffentlich. Mangels entgegenstehender Bestimmungen ergibt sich ebenfalls nur aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, unter welchen Voraussetzungen die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden kann oder muss. Nach § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde, soweit nicht das Interesse an der öffentlichen Erörterung dieser Umstände überwiegt. Nach Absatz 2 dieser Bestimmung ist die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 vorliegen und der Ausschluss von der Person, deren Lebensbereich betroffen ist, beantragt wird.

13 Das Berufungsgericht hat diese Vorschriften verfahrensfehlerfrei angewandt. Wie sich aus der Verhandlungsniederschrift ergibt, hatte der Prozessbevollmächtigte des Beklagten noch vor dem Vortrag des wesentlichen Sachverhalts den Antrag gestellt, die Öffentlichkeit auszuschließen. Diesen Antrag hatte das Gericht nach Beratung zwar abgelehnt, zugleich aber angekündigt, es werde die Öffentlichkeit ausschließen, sofern es zur Inaugenscheinnahme der fraglichen Bilder und einer ins Einzelne gehenden Erörterung der Motivlage komme (GA Bl. 214). Der Niederschrift zufolge ist danach festgestellt worden, dass sich auf dem Laptop des Beklagten insgesamt 24 Bilder mit im strafrechtlichen Sinne kinderpornographischen Bildern befunden haben. Sodann sei dem Beklagten Gelegenheit gegeben worden, im Einzelnen darzulegen, wie es zu dem Runterladen und Betrachten dieser Bilder gekommen sei. Auf die nunmehr geäußerte Bitte des Beklagten, die Öffentlichkeit auszuschließen, sei dies geschehen. Im Anschluss daran gibt die Verhandlungsniederschrift die Erklärungen des Beklagten wieder. Nach Abschluss dieser Anhörung sei die Öffentlichkeit wieder hergestellt worden. Die Niederschrift enthält keinen Hinweis darauf, dass der Beklagte oder sein Prozessbevollmächtigter dies beanstandet hätten.

14 Mit dieser Verfahrensweise hat das Berufungsgericht die ihm gesetzlich obliegenden Pflichten nicht verkannt. Solange Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich des Beklagten noch nicht zur Sprache gekommen waren, war das Gericht mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG nicht verpflichtet, dem Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit stattzugeben. Im Vortrag des Sachverhalts lag noch keine Erörterung von Umständen aus dem persönlichen Lebensbereich des Beklagten, sondern die Darstellung des objektiven Hergangs und der wesentlichen Ergebnisse der Ermittlungen. Wäre bereits damit die Voraussetzung für einen zwingenden Ausschluss der Öffentlichkeit erfüllt, könnten Disziplinarverfahren entgegen der Entscheidung des Gesetzgebers nur mit Zustimmung des Beamten öffentlich verhandelt werden. Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich des Beklagten, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde, sind nur solange zur Sprache gekommen, wie der Verhandlungsniederschrift zufolge die Öffentlichkeit ausgeschlossen war. Es ist nicht ersichtlich und vom Beklagten auch nicht vorgetragen worden, wieso er während der Dauer des Ausschlusses der Öffentlichkeit daran gehindert gewesen sei, sich „ausführlicher“ zu seiner Intimsphäre zu äußern, als er dies getan hat, und weitere Anhaltspunkte für eine eingeschränkte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Tatzeitraum aufzuzeigen. Im Übrigen ist nichts dafür ersichtlich, dass das Gericht die Öffentlichkeit nicht erneut ausgeschlossen hätte, wenn der Beklagte dies im weiteren Verlauf nochmals unter Hinweis auf beabsichtigte Äußerungen zur Sache beantragt hätte.

15 Unter diesen Umständen bedarf es keiner Entscheidung in einem Revisionsverfahren, ob auch im Disziplinarverfahren eine Revision darauf gestützt werden kann, dass die Öffentlichkeit zu Unrecht nicht ausgeschlossen worden ist.

16 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 77 Abs. 4 BDG a.F. Gerichtsgebühren werden gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 BDG a.F. nicht erhoben. Die am 12. Februar 2009 in Kraft getretenen Änderungen der §§ 77 und 78 BDG sind in diesem Verfahren nicht anwendbar, weil die Nichtzulassungsbeschwerde vor dem 12. Februar 2009 erhoben wurde.