Beschluss vom 07.07.2008 -
BVerwG 3 B 110.07ECLI:DE:BVerwG:2008:070708B3B110.07.0

Beschluss

BVerwG 3 B 110.07

  • VG Meiningen - 23.08.2007 - AZ: VG 8 K 348/03 Me

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Juli 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Dette und Prof. Dr. Rennert
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen vom 23. August 2007 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Der Kläger begehrt seine Rehabilitierung nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) wegen der aus politischen Gründen erfolgten Entlassung aus seinem Arbeitsverhältnis beim VEB C. im Jahre 1986 und der fortdauernden Nichtbeschäftigung in einem seiner Ausbildung angemessenen Arbeitsverhältnis bis zum 2. Oktober 1990. Das Verwaltungsgericht hat seiner Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, den Kläger auch für die Zeit vom 1. November 1986 bis 11. April 1989 und vom 9. August 1989 bis 2. Oktober 1990 beruflich zu rehabilitieren. Der Kläger sei aus politischen Gründen vom VEB C. entlassen worden und habe danach nicht mehr in seinem Beruf als Mathematiker oder einem sozial gleichwertigen Beruf arbeiten können. Für die Zeit bis zum Erlass des Urteils des Bezirksgerichts Gera am 23. Februar 1987 im arbeitsgerichtlichen Verfahren sei der Kläger bereits deshalb zu rehabilitieren, weil ihm nicht entgegengehalten werden könne, während eines laufenden Kündigungsschutzprozesses eine andere sozial gleichwertige Arbeit nicht angenommen zu haben. Der Kläger habe auch keine Möglichkeit gehabt, eine sozial gleichwertige Tätigkeit in einem anderen Betrieb anzunehmen. Zwar sei ihm im Oktober 1986 beim Institut für Pflanzenernährung eine Tätigkeit als Programmierer angeboten worden, die seiner Ausbildung als Mathematiker entsprochen habe. Es sei jedoch sehr unwahrscheinlich, dass der Betrieb tatsächlich bereit gewesen wäre, den Kläger einzustellen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Betrieb nach Einsicht in die Kaderakte des Klägers oder sogar nach Aufforderung durch das MfS seine Anstellung verweigert hätte. Bereits das Zentralinstitut für Mikrobiologie und Experimentelle Therapie (ZIMET) J. habe den Kläger als Pförtner nur auf Anweisung des Amtes für Arbeit eingestellt. Die Revision gegen sein Urteil hat das Verwaltungsgericht nicht zugelassen.

2 Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat sich seine Überzeugung in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet und damit gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen.

3 Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gebot der freien Beweiswürdigung verpflichtet u.a. dazu, bei Bildung der Überzeugung von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt auszugehen (Urteil vom 18. Mai 1990 - BVerwG 7 C 3.90 - BVerwGE 85, 155 <158> m.w.N.). Übergeht das Tatsachengericht wesentliche Umstände, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen, fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts sowie für die Überprüfung seiner Entscheidung darauf, ob die Grenze einer objektiv willkürfreien, die Natur- und Denkgesetze sowie allgemeine Erfahrungssätze beachtenden Würdigung überschritten ist (Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 <208 f.> m.w.N.; Beschluss vom 18. Mai 1999 - BVerwG 7 B 11.99 - juris).

4 Ein derartiger Verstoß ist dem Verwaltungsgericht unterlaufen. Nach der dem angegriffenen Urteil zugrundeliegenden Rechtsauffassung konnte der Klage nur unter der Voraussetzung stattgegeben werden, dass dem Kläger ab dem 1. November 1986 keine sozial gleichwertige Tätigkeit als Programmierer beim Institut für Pflanzenernährung in J. zur Verfügung stand. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, dass ein solcher Arbeitsplatz dort grundsätzlich verfügbar gewesen sei und der Kläger davon auch Kenntnis gehabt habe, die Kammer es jedoch für unwahrscheinlich halte, dass der Betrieb tatsächlich bereit gewesen wäre, den Kläger einzustellen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Betrieb nach Einsicht in die Kaderakte oder nach Aufforderung durch das MfS die Anstellung verweigert hätte. Der Beklagte rügt zu Recht, dass das Verwaltungsgericht bei dieser Würdigung wesentlichen Akteninhalt nicht berücksichtigt hat. Ausweislich des Urteils des Bezirksgerichts Gera vom 23. Februar 1987 hatte der Kläger nicht nur am 15. August 1986 telefonisch Rücksprache mit dem Institut für Pflanzenernährung J. im Hinblick auf eine Tätigkeit als Programmierer geführt, sondern der Betrieb hatte ihn mit Schreiben vom 15. Oktober 1986 nochmals auf die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme als Programmierer hingewiesen. Hierauf hatte der Kläger abschlägig geantwortet. Nach Auffassung des Bezirksgerichts Gera waren die im Schreiben des Klägers angeführten Argumente für die Ablehnung der Arbeitsaufnahme nicht stichhaltig, sondern ließen eine ungerechtfertigte Zurückhaltung bei der Aufnahme einer möglichen anderen Arbeit erkennen. Deshalb hat das Bezirksgericht Gera für die nachfolgende Zeit einen Anspruch auf entgangenen Verdienst verneint (Bl. 166 <170> des Verwaltungsvorgangs).

5 Diese Ausführungen legen, für sich betrachtet, die Annahme nahe, der Kläger habe die ihm wiederholt angebotene Stelle aus freien Stücken ausgeschlagen. Das wird durch des Klägers eigene Einlassung in dem Schreiben bekräftigt, das am 14. Februar 2000 einging. In diesem Schreiben hatte der Kläger auf S. 7 (Bl. 105 des Verwaltungsvorgangs) selbst ausgeführt, dass er seine Arbeitsstelle beim ZIMET in J. nicht aufgeben wollte, weil das Betriebsklima für ihn dort noch nicht vergiftet gewesen und auch die Bezahlung besser als bei Carl Zeiss J. gewesen sei. Das angefochtene Urteil lässt jede Auseinandersetzung mit diesen Umständen vermissen. Angesichts dessen ist es nicht nachzuvollziehen, weshalb das Verwaltungsgericht zu seiner Annahme gelangt ist, dass das Institut für Pflanzenernährung in J. nach Einsicht in die Kaderakte oder nach Aufforderung durch das MfS die Anstellung des Klägers voraussichtlich verweigert hätte.

6 Der Verfahrensfehler erfasst auch den Zeitraum vom 1. November 1986 bis zum 23. Februar 1987. Zwar hat das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil für diesen Zeitraum - selbstständig tragend - ausgeführt, dass dem Kläger bis zum Erlass des Urteils des Bezirksgerichts Gera vom 23. Februar 1987 nicht entgegengehalten werden könne, eine andere, sozial gleichwertige Arbeit nicht angenommen zu haben. Auch hierbei hat das Verwaltungsgericht jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger bereits im Oktober 1986 eine Tätigkeit als Programmierer beim Institut für Pflanzenernährung in J. angeboten worden war und er eine Aufnahme dieser Tätigkeit abgelehnt hatte. Unberücksichtigt geblieben sind weiterhin die Ausführungen des Bezirksgerichts in seinem Urteil vom 23. Februar 1987, wonach ein Werktätiger gehalten war, in der Zeit bis zur Entscheidung über den Einspruch gegen seine Kündigung zum Nutzen der Gesellschaft und im eigenen Interesse einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit nachzugehen.

7 Ob das Verwaltungsgericht, wie die Beschwerde vorträgt, weitere Verfahrensfehler begangen hat, bedarf keiner Entscheidung mehr. Der Senat macht von der durch § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Befugnis Gebrauch und verweist unter Aufhebung des angegriffenen Urteils den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurück. Einen Grund, der die Durchführung eines Revisionsverfahrens erforderte, hat der Beklagte nicht dargetan. Zwar hält er die Rechtssache wegen der Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob das Vertretenmüssen im Sinne des § 2 Abs. 2 BerRehaG davon abhänge, ob ein Arbeitnehmer nach dem Recht der DDR während eines laufenden Kündigungsschutzprozesses verpflichtet gewesen sei, eine zumutbare Tätigkeit anzunehmen. Es ist jedoch offen, ob sich diese Frage nach einer erneuten Verhandlung durch das Verwaltungsgericht noch stellen wird. Die Frage, ob die Erfüllung der „Schadensminderungspflicht“ unter Heranziehung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen der DDR zu beurteilen ist, ist generelle Natur!

8 Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und § 52 Abs. 2 GKG.