Beschluss vom 06.07.2007 -
BVerwG 8 B 51.07ECLI:DE:BVerwG:2007:060707B8B51.07.0

Beschluss

BVerwG 8 B 51.07

  • VG Cottbus - 17.01.2007 - AZ: VG 1 K 1104/06

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Juli 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 17. Januar 2007 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 155 400 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet.

2 Zwar liegt der von der Beschwerde geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) nicht vor, weil die Beschwerde keinen abstrakten Rechtssatzwiderspruch zwischen der angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. April 1985 - BVerwG 9 C 7.85 - (Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 4) und dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts darlegt. Die Beschwerde rügt vielmehr die fehlerhafte Anwendung der in diesem Urteil vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Rechtssätze. Damit kann eine Divergenzrüge nicht begründet werden. Jedoch bezieht sich die Rüge im vorliegenden Fall auf die Anwendung von prozessrechtlichen Vorschriften, so dass der Sache nach ein Verfahrensmangel gerügt wird. Dies führt dazu, dass in der Divergenzrüge zugleich eine Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zu sehen ist (Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 - Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 13).

3 Es liegt ein Verfahrensfehler vor, auf dem das Urteil beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht als zurückgenommen behandelt, weil es unter Verstoß gegen Bundesrecht angenommen hat, der Kläger sei nicht durch höhere Gewalt an der rechtzeitigen Einreichung des Schriftsatzes vom 12. September 2006 gehindert gewesen.

4 Das Verwaltungsgericht ist zwar im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei der Frist des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO um eine Ausschlussfrist handelt und deswegen eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nicht in Betracht kommt, es sei denn, dass ein Fall höherer Gewalt vorliegt (vgl. Urteile vom 23. April 1985 - BVerwG 9 C 7.85 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVerfG Nr. 4 und vom 15. Januar 1991 - BVerwG 9 C 96.89 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVerfG Nr. 11 sowie Beschluss vom 25. November 2002 - BVerwG 8 B 112.02 - Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 17). Hier spricht aber nach dem Vorbringen des Klägers alles für einen Fall höherer Gewalt.

5 Der Begriff der höheren Gewalt entspricht dem Begriff der „Naturereignisse und andere unabwendbare Zufälle“ in § 233 Abs. 1 ZPO a.F. (Urteil vom 11. Mai 1979 - BVerwG 6 C 70.78 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 106 m.w.N.). Als höhere Gewalt sind daher insbesondere die Fälle anzusehen, die nach der Rechtsprechung des BGH nach der alten Fassung des § 233 Abs. 1 ZPO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ermöglichten (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 58 Rn. 20).

6 Die Beschwerde macht geltend, dass die mit der Überwachung der Fristen beauftragte Anwaltssekretärin trotz einer intensiven Kontrolle innerhalb der ersten 14 Tage ihrer Tätigkeit und ihrer 12-jährigen Berufserfahrung es versäumt habe, den Unterzeichner telefonisch auf den Ablauf der notierten Betreibensfrist zum 30. August 2006 hinzuweisen. An diesem Tag sei nach langer Krankheit sein Vater verstorben, deshalb habe er entgegen seiner Ankündigung am 30. August 2006 nachmittags ab 13:00 Uhr nicht mehr im Büro erscheinen können. Die Sekretärin habe am darauffolgenden Tag den Unterzeichner auf die versäumte Frist hingewiesen. In der Rechtsprechung zu § 233 ZPO a.F. ist anerkannt, dass eine durch Versehen des Büropersonals eines Rechtsanwalts herbeigeführte Fristversäumung sich als Folge eines unabwendbaren Zufalls darstellen kann (RG, Urteil vom 23. September 1919 - III 190/19 - RGZ 96, 322; BGH, Beschluss vom 12. Februar 1965 - IV ZR 231/63 - BGHZ 43, 148 sowie BGH, Beschluss vom 3. November 1965 - VIII ZB 15/65 - VersR 1966, 185; BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 a.a.O.). Sie geht davon aus, dass der Rechtsanwalt zwar Fristsachen mit der größten Genauigkeit zu behandeln hat, dass aber andererseits die Anwälte gezwungen sind, gewisse einfache Verrichtungen, die keine besondere Geistesarbeit oder juristische Schulungen verlangen, ihrem Büro zu überlassen, damit sie im Stande sind, ihre eigentlichen Berufspflichten zu erfüllen. Deshalb darf der Prozessbevollmächtigte die Berechnung der üblichen Fristen seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen, wenn die Berechnung der Frist keine rechtlichen Schwierigkeiten macht. Unter diesen Voraussetzungen ist ein Versehen des Büropersonals ein unabwendbarer Zufall. Im vorliegenden Falle wurde der Ablauf der Frist berechnet und notiert. Der Prozessbevollmächtigte durfte sich darauf verlassen, dass die im Fristenkalender notierte Frist von der Sekretärin überwacht und eingehalten wird. Es ist glaubhaft gemacht, dass Frau B. zuverlässig ist, weil sie seit 12 Jahren als Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellte tätig ist und daher um die Bedeutung von Fristen und deren Einhaltung Bescheid weiß, auch wenn sie in der Kanzlei des Unterzeichners nur aushilfsweise tätig ist. Der Prozessbevollmächtigte durfte am 30. August 2006 anlässlich des Telefonats davon ausgehen, dass sie die Frist beachtet und sie sich notfalls an einen anderen Kanzleikollegen wenden wird. Soweit das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung darauf abgestellt hat, dass nach dem Vorbringen im Schriftsatz vom 12. September 2006 die Stellungnahme bereits vor Fristablauf gefertigt gewesen sei und ohne weiteres Zutun ausgefertigt und versandt hätte werden können, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Selbst wenn dem Prozessbevollmächtigten die Akte zur Vorfrist am 23. August 2006 vorgelegt worden ist und er die Stellungnahme ohne erhebliches Zutun am Tage des Fristablaufs hätte ausfertigen können, ändert dies nichts an der vorgetragenen Tatsache, dass von der Anwaltssekretärin der weitere Ablauf nicht mehr fristgemäß überwacht worden ist.

7 Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung gemäß § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch.

8 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 GKG.