Beschluss vom 06.03.2003 -
BVerwG 8 B 169.02ECLI:DE:BVerwG:2003:060303B8B169.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 06.03.2003 - 8 B 169.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:060303B8B169.02.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 169.02

  • VG Gera - 15.08.2002 - AZ: VG 5 K 800/02 GE

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. März 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. M ü l l e r , die Richterin am Bundesverwaltungsgericht
Dr. von H e i m b u r g und den Richter am Bundes-verwaltungsgericht P o s t i e r
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 15. August 2002 wird aufgehoben.
  2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 225,84 € festgesetzt.

I


Der Kläger begehrt die Rückübertragung mehrerer Grundstücke nach den Vorschriften des Vermögensgesetzes. In der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2001 vor dem Verwaltungsgericht heißt es u.a.:
"Das Gericht teilt mit, dass es beabsichtigt, die Umstände der Erbausschlagung insbesondere durch Nachfrage beim Staatlichen Notariat Jena weiter aufzuklären.
...
Das Gericht fordert den Bevollmächtigten des Klägers binnen vier Wochen auf, die von ihm aus den Gesprächen mit dem Kläger gewonnenen Erkenntnisse schriftsätzlich vorzutragen."
Ausweislich des Empfangsbekenntnisses, dessen Rücksendung am 6. Juli 2001 vom Verwaltungsgericht angemahnt wurde, hat der Klägerbevollmächtigte die Niederschrift am 12. Juli 2001 erhalten.
Mit richterlicher Verfügung vom 20. Juli 2001, dem Klägerbevollmächtigten am 27. Juli 2001 zugestellt, hat der Vorsitzende unter Hinweis auf die Rücknahmefiktion des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO den Klägerbevollmächtigten aufgefordert, zur Sache vorzutragen. Mit Beschluss vom 1. November 2001 hat der Vorsitzende das Verfahren eingestellt, weil es vom Kläger trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben worden sei. Die im Januar 2002 berichtigte Ausfertigung dieses Beschlusses ist dem Klägerbevollmächtigten, der mit Schreiben vom 8. Januar 2002 seine nach seinen Angaben seit Ende Juni geltende neue Geschäftsanschrift mitgeteilt hatte, am 4. Februar 2002 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 25. Januar 2002 hat der Klägerbevollmächtigte zur Sache vorgetragen und gebeten, das Verfahren wieder aufzunehmen, nachdem ihm der Vorsitzende mit Schreiben vom 21. Januar 2002 mitgeteilt hatte, dass das Verfahren mit Beschluss vom 1. November 2001 eingestellt worden sei.
Mit Urteil der Einzelrichterin vom 15. August 2002 hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Klage zurückgenommen ist, weil das Verfahren mit Beschluss vom 1. November 2001 eingestellt sei, nachdem es vom Kläger länger als drei Monate nicht betrieben wurde.

II


Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision ist begründet. Seine Verfahrensrüge führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Verwaltungsgericht (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat unter Verstoß gegen § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Klage als zurückgenommen behandelt und deshalb verfahrensfehlerhaft nicht zur Sache entschieden; darin liegt zugleich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG).
Wie der Senat bereits in dem auch vom Verwaltungsgericht zitierten Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - (Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 12; vgl. auch Beschluss vom 12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 - Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 13) ausgeführt hat, setzt eine fiktive Klagerücknahme nach § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG) voraus, dass im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung - hier also am 20. Juli 2001 - bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden haben (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 - NVwZ 1994, 62 <63>; Urteil vom 23. April 1985 - BVerwG 9 C 48.84 - BVerwGE 71, 213 <218 f.> = Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 3 S. 7 <12>). Dieses in ständiger Rechtsprechung zu den entsprechenden asylverfahrensrechtlichen Regelungen entwickelte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal gilt auch für die dem Asylverfahrensrecht nachgebildete und durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz in das allgemeine Verwaltungsprozessrecht eingeführte Vorschrift des § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO (vgl. Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - a.a.O. m.w.N.). Stets muss sich aus dem fallbezogenen Verhalten des jeweiligen Klägers, z.B. aus der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten, der Schluss auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses, also auf ein Desinteresse des jeweiligen Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens ableiten lassen. Denn § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung Prozess leitender Verfügungen.
Das Verwaltungsgericht ist im vorliegenden Fall zu Unrecht von derartigen konkreten Anhaltspunkten für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses ausgegangen. Zwar hat der Klägerbevollmächtigte das Verfahren nicht sehr sorgfältig betrieben; das allein reicht aber nicht für die Annahme aus, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen ist. Anhaltspunkte dafür ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Klägerbevollmächtigte seiner Mitwirkungspflicht, die hier nach Auffassung des Verwaltungsgerichts darin bestand, über zu führende Gespräche binnen vier Wochen nach der mündlichen Verhandlung schriftsätzlich vorzutragen, nicht fristgemäß nachkam. Denn der Inhalt der Mitwirkungspflicht ist insoweit mehrdeutig, als die Formulierung in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 15. Juni 2001 durch die Satzstellung auch den Schluss zulässt, dass das Gericht innerhalb von vier Wochen - z.B. nach Vorliegen der von Amts wegen erhobenen Auskünfte beim Staatlichen Notariat Jena - den Bevollmächtigten zum Vortrag auffordern werde. Das ist aber nicht geschehen, da das Gericht den Klägerbevollmächtigten über die Vorlage der Nachlassakten durch das Amtsgericht Jena nicht informiert und ihm den Inhalt der Akten erst mit Schreiben vom 21. Januar 2002 mitgeteilt hat. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht liegt bei dieser Auslegung nicht vor.
Ob darüber hinaus bei Erlass der Betreibensaufforderung eine in der mündlichen Verhandlung gesetzte Frist schon längere Zeit verstrichen sein muss, um aus dem Zeitraum der Untätigkeit auf den Wegfall des Rechtsschutzinteresses schließen zu können (vgl. dazu Beschluss vom 5. Juli 2000 - BVerwG 8 B 119.00 - a.a.O.), kann hier dahinstehen.
Da die Voraussetzungen für den Erlass einer Betreibensaufforderung gemäß § 92 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht vorlagen, ist es unschädlich, dass der Klägerbevollmächtigte die Drei-Monats-Frist mit seiner Stellungnahme zur Sache nicht eingehalten hat.
Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens macht der Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil ohne vorheriges Revisionsverfahren durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 13, 14 GKG.