Beschluss vom 02.07.2002 -
BVerwG 7 B 33.02ECLI:DE:BVerwG:2002:020702B7B33.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.07.2002 - 7 B 33.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:020702B7B33.02.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 33.02

  • VG Berlin - 09.11.2001 - AZ: VG 16 A 334.95

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Juli 2002
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
Dr. F r a n ß e n und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht G ö d e l und K l e y
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 9. November 2001 wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 253 000 € festgesetzt.

Die Klägerin beansprucht die Feststellung ihrer vermögensrechtlichen Berechtigung an einem Hausgrundstück nach den Vorschriften des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen - VermG -. Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage abgewiesen, weil die seinerzeitige Enteignung des Vaters der Klägerin von der Besatzungsmacht zu verantworten gewesen sei; ein Rückübertragungsanspruch sei daher nach § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG ausgeschlossen.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil bleibt ohne Erfolg. Die nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gerügten Verfahrensfehler liegen nicht vor. Es ist weder die geltend gemachte Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 108 Abs. 2 VwGO erkennbar (1), noch beruht das angegriffene Urteil auf einem als Verfahrensverstoß geltenden Mangel richterlicher Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 VwGO (2), noch ist eine Verletzung der Pflicht zur gerichtlichen Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO ersichtlich (3).
1. Die Klägerin sieht den Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO und Art. 103 Abs. 1 GG darin, dass das Verwaltungsgericht eine Überraschungsentscheidung getroffen und ihr damit weiteren entscheidungserheblichen Vortrag abgeschnitten habe: Nach dem Verlauf des gerichtlichen Verfahrens einschließlich der Beweisaufnahme habe sie damit rechnen müssen, dass es für die Entscheidungsfindung maßgeblich auf die Herkunft der von ihr vorgelegten Urkunden aus dem Moskauer Staatsarchiv ankommen würde und darauf, ob die Aufhebungsanweisung der SMAD rechtliche Außenwirkung erlangt habe. Stattdessen sei die Klageabweisung darauf gestützt wurden,
- dass es keinen Hinweis auf einen der Beschlagnahme entgegenstehenden Willen der Besatzungsmacht in der Sequesterakte gebe
- Zweifel an der Authentizität der vorgelegten Urkunde gegebenen seien, weil kein Adressat erkennbar sei
- nicht nachvollziehbar erscheine, warum nur die Beschlagnahme zweier Grundstücke annulliert worden und eine Benennung der zuvor als belastet eingestuften Person nicht erfolgt sei
- Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin bestünden, weil sie konkreten Fragen zum Teil ausgewichen sei und diese dann weitschweifig beantwortet habe
- die Glaubwürdigkeit der Klägerin auch deswegen fraglich sei, weil sie unglaubhafte Angaben im Zusammenhang mit dem Grundstück Mühlenstraße 54 gemacht habe und sich Widersprüche im Hinblick auf den von der Klägerin geschilderten Besuch bei der Kommandantur in den Jahren 1946/1947 ergeben hätten.
Diese in der Urteilsbegründung angeführten Überlegungen hätten sich im Laufe des Verfahrens in keiner Weise widergespiegelt. Das Gericht habe überraschend eine durch Beweiserhebung als erheblich behandelte Tatsache als unerheblich behandelt und ebenso überraschend die fehlende Adressierung des Dokuments nicht mehr als Rechtsfrage im Hinblick auf die Außenwirkung des Befehls behandelt, sondern als Anhaltspunkt für die fehlende "Authentizität" des Dokuments gewertet.
Die Rüge ergibt nicht die von der Klägerin behauptete Verletzung des ihr zustehenden rechtlichen Gehörs. Dieses den Verfahrensbeteiligten zustehende Prozessgrundrecht nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO sowie § 139 Abs. 2 ZPO (früher § 278 Abs. 3 ZPO) i.V.m. § 173 VwGO erfasst zwar im Zusammenhang mit den Hinweispflichten nach § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO auch das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Eine solche liegt aber nur vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. etwa Beschluss vom 23. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241 m.w.N.). So verhält es sich hier nicht. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nur, dass von Seiten des Vorsitzenden die Gesichtspunkte, auf die das Gericht späterhin die Klageabweisung gestützt hat, nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht zum Gegenstand des Rechtsgesprächs gemacht worden sind, obwohl dies im Blick auf die mit einem richterlichen Urteilsspruch immer auch angestrebte Befriedungswirkung möglicherweise angebracht gewesen wäre. Ein Gehörsverstoß liegt darin aber noch nicht. Das gilt auch dann, wenn man zusätzlich die von der Klägerin geschilderten Vorgänge aus Anlass der Urteilsverkündung mit in Rechnung stellt. Sollten sie sich tatsächlich so und damit in einer nur als unerfreulich zu bezeichnenden Weise abgespielt haben, musste dies in der Retrospektive bei der Klägerin den Eindruck verstärken, das Gericht habe ihr gegenüber in der mündlichen Verhandlung nicht mit offenen Karten spielen wollen. Daraus lässt sich jedoch - gewissermaßen im Rückschluss - kein Verfahrensfehler herleiten. Der Klägerin war nämlich klar, dass es für die Entscheidung darauf ankam, einen der Enteignung widersprechenden Willen der Sowjetunion zu belegen. Diesen Beweis versuchte sie, durch die von ihr vorgelegten Urkunden zu führen. Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht ausweislich der Ladungsverfügung durch die Befragung der Tochter der Klägerin die Herkunft dieser Urkunden aus dem russischen Staatsarchiv klären wollte, konnte auch aus der Sicht der Verfahrensbeteiligten nicht bedeuten, dass das Gericht allein aufgrund dieser Zeugenaussage den Beweis als geführt ansehen musste, selbst wenn der Vorsitzende - wie die Klägerin vorträgt - der Zeugin eine "gewisse Überzeugungskraft" attestiert und die Aussage als "nicht wenig überzeugend" bewertet haben sollte. Abgesehen davon, dass es sich dabei um eine naturgemäß vorläufige und zudem nicht eben besonders klar formulierte Einschätzung eines der beteiligten Richter handelte, musste es für die Klägerin auf der Hand liegen, dass auch die übrigen vom Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung angeführten Umstände von Bedeutung für die Beweiskraft der vorgelegten Ablichtungen sein konnten und mussten. Der Beklagte hatte in seinem Schriftsatz vom 20. Juni 2001 eine Klaglosstellung ausdrücklich davon abhängig gemacht, dass etwaige Zweifel an der "Authentizität" der als Anlage 4 eingereichten Ablichtung ausgeräumt sein müssten, und darauf hingewiesen, dass die geltend gemachte Annullierung am 21. April 1949 ausgesprochen worden sei, wobei auffalle, dass auf der Rückseite der Annullierungsanweisung nur das Grundstück Mühlenstraße 54, nicht jedoch das Streitgrundstück aufgeführt sei, und der Enteignungsvorschlag der Deutschen Treuhandanstalt vom 30. Juli 1949 datiere. Wenn die Klägerin glaubte, die in der Tat ungewöhnliche Gestaltung des Dokuments mit den Besonderheiten des Freigabeverfahrens erklären zu können, hätte sie daher allen Anlass gehabt, dies bereits dem Verwaltungsgericht vorzutragen. Soweit sie geltend macht, der Vorsitzende habe ausdrücklich erklärt, dass an der Echtheit der vorgelegten Dokumente kein Zweifel bestehe, ergibt sich aus dem ihrer Beschwerdebegründung beigefügten "Aktenvermerk", dass der Vorsitzende dies erst nach Verkündung des Urteils geäußert haben soll. Damit ist ausgeschlossen, dass diese mit den schriftlichen Urteilsgründen nicht zu vereinbarende Äußerung - selbst wenn sie so gefallen sein sollte - Einfluss auf die Einschätzung der Prozesssituation durch
die Klägerin während der mündlichen Verhandlung gehabt haben kann.
Ebenso wenig überraschend konnte es für die Klägerin sein, dass die fehlende Adressierung des Befehls für das Gericht nicht nur die Rechtsfrage aufwarf, ob er überhaupt rechtliche Wirksamkeit erlangt hatte, sondern auch Zweifel des Gerichts an seiner "Authentizität" im Sinne der Echtheit des Dokuments begründen konnte. Auch insoweit hatte die Klägerin hinreichend Anlass, das vorzutragen, was sie nunmehr mit der Beschwerdebegründung nachholt, zumal ihre Erläuterungen zu der angeblichen Freigabepraxis der Besatzungsmacht auch Bedeutung für die rechtliche Wirksamkeit eines solchen adressatlosen Befehls haben konnten.
2. Der gerügte Verstoß gegen eine ordnungsgemäße richterliche Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Die Klägerin legt zur Begründung dieser Rüge im Einzelnen dar, warum sie die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts für nicht überzeugend oder sogar für unlogisch und nicht nachvollziehbar hält. Ein Verfahrensfehler im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird durch ihren Vortrag jedoch nicht dargetan. Die Grundsätze der Beweiswürdigung sind in der Regel revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzurechnen. Ein Verstoß gegen die Denkgesetze kann allerdings als Verfahrensfehler geltend gemacht werden, wenn sich der Fehler auf die tatsächliche Würdigung beschränkt und die rechtliche Subsumtion nicht berührt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 1990 - BVerwG 4 C 28.89 - BVerwGE 84, 271 <272> m.w.N.). Einen solchen Verfahrensfehler zeigt die Klägerin aber nicht auf, obwohl sie dem Verwaltungsgericht mangelnde Logik vorwirft. Dieser Denkfehler soll darin begründet sein, dass das Verwaltungsgericht auf der einen Seite die Herkunft der abgelichteten Urkunde nicht infrage stelle, auf der anderen Seite aber die Existenz des Befehls bezweifle, ohne dies anhand der Urkunde zu erläutern. Es trifft schon nicht zu, dass das Verwaltungsgericht von der Herkunft der Urkunde aus dem Staatsarchiv ausgegangen sei. Vielmehr hat das Gericht nicht nur deutliche Vorbehalte gegen die Authentizität der Urkunde und damit naturgemäß auch gegen ihre Herkunft aus dem Staatsarchiv geäußert (Seite 8 der Entscheidungsgründe), sondern auch auf Seite 10 des Urteils ausdrücklich darauf hingewiesen, warum die geschilderten Umstände des Auffindens der Dokumente Zweifel an dem Vortrag der Klägerseite begründeten. Ebenso wenig trifft es zu, dass das Gericht nicht erläutert habe, warum es Zweifel an der Existenz des Befehls habe. Vielmehr hat es darauf hingewiesen, dass sich in den Sequesterakten kein Hinweis auf einen solchen Befehl befinde, und daneben auch anhand der Urkunde selbst seine Zweifel erläutert, indem es auf deren Adressatlosigkeit hingewiesen hat und darauf, dass sich Vorder- und Rückseite des Dokuments nicht entsprächen. Im Ergebnis erschöpft sich diese Rüge der Klägerin darin, der Wertung des Verwaltungsgerichts ihre eigene entgegenzusetzen. Ein Mangel richterlicher Überzeugungsbildung ergibt sich daraus nicht.
3. Schließlich zeigt die Beschwerde auch nicht auf, worin der von ihr gerügte Verstoß gegen die Pflicht zur gerichtlichen Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO liegen soll. Die Klägerin beruft sich darauf, dass das Gericht "die von ihm beigezogenen Akten des Landesarchivs nicht in dem erforderlichen Maße studiert und in die Entscheidungsfindung einbezogen" habe, und legt im Einzelnen dar, welche Anhaltspunkte bei genauerem Aktenstudium es "zumindest wahrscheinlich" erscheinen ließen, dass eine Freigabe des Grundstücks durch die Besatzungsmacht erfolgt sei. Die diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerdebegründung fußen jedoch auf dem Studium einer vom Verwaltungsgericht nicht beigezogenen Akte des Landesarchivs. Die daran anknüpfenden Darlegungen der Klägerin im Blick auf den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse haben teilweise spekulativen Charakter und lassen vor allen Dingen nicht erkennen, weshalb sich dem Verwaltungsgericht vom Boden seiner Rechtsauffassung die Beiziehung weiterer Akten aus dem Landesarchiv hätte aufdrängen müssen, zumal nach dem Vorbringen der Klägerin der "Vorgang Platanenstraße 39 ... nicht gefunden werden" konnte.
Von einer weiteren Begründung seines Beschlusses sieht der Senat gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.