Beschluss vom 02.04.2006 -
BVerwG 1 B 105.05ECLI:DE:BVerwG:2006:020406B1B105.05.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.04.2006 - 1 B 105.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:020406B1B105.05.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 105.05

  • Thüringer OVG - 06.07.2005 - AZ: OVG 2 KO 904/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. April 2006
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2005 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1 Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO) sind nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargetan.

2 1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine bestimmte klärungsfähige und klärungsbedürftige R e c h t s frage von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen wird. Eine solche lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen.

3 Die Beschwerde hält zunächst die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
„ob für armenische Volkszugehörige aus Aserbaidschan, die nach allgemeiner Auskunftslage in allen gesellschaftlichen Bereichen schlechter als andere Ethnien behandelt werden, soweit sie nicht über ein tragfähiges soziales Netzwerk verfügen, welches vornehmlich an der finanziellen Leistungsfähigkeit orientiert ist, und die - wie hier - ihr Heimatland vor zehn Jahren verlassen haben und dort keine weiteren sozialen Bindungen aufweisen, nicht bereits deshalb regelmäßig von einem Abschiebungshindernis zumindest nach § 60 Abs. 7 AufenthG auszugehen ist, da für diese Personengruppe im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan bereits die Erlangung einer menschenwürdigen Unterkunft und ein wirtschaftliches Existenzminimum unerreichbar ist.“

4 Mit dieser Frage zielt die Beschwerde nicht auf eine vom Revisionsgericht zu klärende rechtsgrundsätzliche Frage zu der von ihr angeführten Vorschrift des § 60 Abs. 7 AufenthG, sondern auf die den Tatsachengerichten vorbehaltene Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse in Aserbaidschan. Im Übrigen legt die Beschwerde auch nicht dar, dass sich die von ihr aufgeworfene Frage in dieser Form in dem angestrebten Revisionsverfahren stellen würde. Denn die Beschwerde geht bei ihrer Frage von tatsächlichen Voraussetzungen (wie etwa der Unerreichbarkeit einer menschenwürdigen Unterkunft und eines wirtschaftlichen Existenzminimums im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan) aus, die das Berufungsgericht so nicht festgestellt hat und die folglich auch im Revisionsverfahren nicht zugrunde gelegt werden könnten (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO).

5 Entsprechendes gilt für die weitere von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
„ob für durch sezessionistische Bestrebungen abgetrennte Teile des ursprünglichen Verfolgerstaates, bei denen der Kernstaat über keinerlei Gebietsherrschaft mehr verfügt - hier die Region Berg-Karabach - nach mehr als eineinhalb Jahrzehnten Zeitablauf, ohne dass für die Vergangenheit oder auf absehbare Zukunft davon auszugehen sein wird, dass die Gebietsherrschaft wiedererlangt wird, noch vom Vorliegen der Voraussetzungen einer inländischen Fluchtalternative ausgegangen werden kann oder ob in diesen Fällen nicht vielmehr der seit 15 Jahren (dauerhaft) abgetrennte Teil als Ausland angesehen werden muss und somit bereits aus rechtlichen Gründen keine inländische Fluchtalternative sein kann.“

6 Auch dieses Vorbringen der Beschwerde, das sich auf die Ausführungen des Berufungsgerichts zum Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG bezieht, führt nicht auf eine verallgemeinerungsfähig zu beantwortende Frage des revisiblen Rechts, sondern richtet sich gegen die den Tatsachengerichten vorbehaltene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts im Einzelfall. Im Übrigen ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass als Ort einer inländischen Fluchtalternative auch ein Teilgebiet eines Staates in Betracht kommt, in dem dieser seine Gebietsgewalt vorübergehend faktisch nicht mehr ausüben kann; ferner ist geklärt, dass dann, wenn der Staat in einer Region die Gebietsherrschaft - etwa durch Annektion oder Sezession - endgültig verliert, diese asylrechtlich nicht mehr als inländische Fluchtalternative anzusehen ist (vgl. Urteil vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 17.98 - BVerwGE 108, 84 <88 bis 90>). Hiervon ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Die Frage, ob und wann im Einzelfall der endgültige Verlust der Gebietsherrschaft eines (Verfolger-)Staates in einer Region eingetreten ist, ist von den Tatsachengerichten nach den jeweiligen tatsächlichen Umständen im Einzelfall zu ermitteln und zu würdigen und entzieht sich einer weitergehenden abstrakten rechtsgrundsätzlichen Klärung. Die Beschwerde greift mit ihrer Rüge in Wahrheit die ihrer Ansicht nach unzutreffende Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts an, das einen dauerhaften Verlust der Gebietsherrschaft der Republik Aserbaidschan über das Territorium von Berg-Karabach angesichts der noch offenen Verhandlungssituation verneint hat (UA S. 16 f.). Abgesehen davon kann die Beschwerde mit dieser Grundsatzrüge auch deshalb keinen Erfolg haben, weil das Berufungsgericht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans nicht nur wegen einer inländischen Fluchtalternative für den Kläger in dem Gebiet von Berg-Karabach, sondern in erster Linie und unabhängig davon deshalb verneint hat, weil der Kläger bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan insgesamt vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wäre (UA S. 11 ff.). Ist das Urteil aber - wie hier hinsichtlich des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG - auf zwei selbständig tragende Begründungen gestützt, kann nach ständiger Rechtsprechung die Revision nur zugelassen werden, wenn gegen jede dieser Begründungen ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird und auch durchgreift. Gegen die erste tragende Begründung des Urteils hat die Beschwerde indes keine durchgreifenden Zulassungsgründe vorgebracht.

7 2. Die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) genügt ebenfalls nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.

8 Die Beschwerde macht hierzu geltend, das Berufungsgericht hätte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht ohne weitere Aufklärung der Frage, ob dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Aserbaidschan eine ausreichende wirtschaftliche Lebensgrundlage zur Verfügung stehe, insbesondere ob er dort über ein soziales Netzwerk verfüge, verneinen dürfen. Diese Aufklärung hätte sich dem Berufungsgericht angesichts der in der Entscheidung angeführten Benachteiligungen armenischer Volkszugehöriger - verharmlosend als „Probleme“ bezeichnet - (wie Nichtauszahlung von Pensionen, Nichtrückgabe der mit Flüchtlingen belegten Wohnungen an die Berechtigten, Nichtausstellung von Urkunden oder Pässen, Nichtanstellung im öffentlichen Dienst, Schwierigkeiten bei der Anmeldung von Kindern zum Schulbesuch und ähnliches) aufdrängen müssen.

9 Mit diesem Vorbringen ist eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nicht dargetan. Hierzu bedarf es der Darlegung hinsichtlich welcher entscheidungserheblicher Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen, die zu einem für die Kläger günstigeren Ergebnis geführt hätten, voraussichtlich getroffen worden wären. Weiter muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen. Daran fehlt es hier. Die Beschwerde legt bereits nicht dar, unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG die Frage der „bestehenden sozialen Strukturen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Klägers“ aus der insoweit maßgeblichen rechtlichen Sicht des Berufungsgerichts entscheidungserheblich gewesen sein soll. Sie zeigt damit auch nicht auf, dass sich dem Berufungsgericht aufgrund der im Rahmen der Prüfung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG angeführten Benachteiligungen armenischer Volkszugehöriger in Aserbaidschan von Amts wegen weitere Aufklärungen zu den Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hätten aufdrängen müssen, obwohl der anwaltlich vertretene Kläger hierauf im Berufungsverfahren nicht hingewirkt hat. Im Übrigen gibt sie nicht an, welche konkreten Aufklärungsmaßnahmen in Betracht gekommen wären. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde auch mit dieser Rüge gegen die ihrer Ansicht nach unzutreffende Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts, das den angeführten Benachteiligungen armenischer Volkszugehöriger keine Anhaltspunkte für Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entnommen hat. Auf etwaige Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann aber eine Verfahrensrüge grundsätzlich - und so auch hier - nicht gestützt werden.

10 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.