Beschluss vom 01.07.2004 -
BVerwG 1 B 294.03ECLI:DE:BVerwG:2004:010704B1B294.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 01.07.2004 - 1 B 294.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:010704B1B294.03.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 294.03

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 14.10.2003 - AZ: OVG 15 A 459/98.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. Juli 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Oktober 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die auf einen Verfahrensmangel wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg.
1. Die Beschwerde meint, das Berufungsurteil stelle eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar und verletze damit den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Das Berufungsgericht habe unerwartet zweierlei Maß an in das Verfahren eingeführte Quellen angelegt. Aus der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 8. April 2003 habe es herausgelesen, dass dem Kläger wegen seines Freispruchs in dem früheren Strafverfahren mit politischem Hintergrund keine asylrelevante Verfolgung im Falle einer Rückkehr in die Türkei drohe, obwohl das Auswärtige Amt keinen einzigen Referenzfall dafür benannt habe, dass ein früher Freigesprochener in die Türkei wieder eingereist und nicht asylrelevant verfolgt worden sei. Demgegenüber habe das Berufungsgericht die vom Kläger vorgelegte Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 21. Juni 2003 über eine Verfolgungsgefahr wegen Wehrdienstentziehung als spekulative Annahme gewertet, weil gerade keine Referenzfälle dazu genannt würden, dass bereits in der Vergangenheit auffällig gewordenen Personen - anders als im Regelfall - wegen einer Wehrdienstentziehung asylrelevante Verfolgung drohe. Wäre diese unerwartete unterschiedliche Behandlung der Quellen in der Berufungsverhandlung erkennbar geworden, so hätte der Kläger auf dieses Missverhältnis hingewiesen und beantragt, eine ergänzende Auskunft des Auswärtigen Amtes zu der Frage einzuholen, ob dort konkrete Fälle bekannt seien, wo in Verfahren mit politischem Hintergrund Freigesprochene in die Türkei unbehelligt einreisen und dort auch unbehelligt hätten leben können.
Mit diesem Vorbringen ist die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht aufgezeigt. Die Beschwerde verkennt, dass das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet ist, die ihm obliegende abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52). Etwas anderes gilt zwar dann, wenn das Urteil sich ohne einen vorherigen gerichtlichen Hinweis als unzulässige Überraschungsentscheidung darstellen würde, weil das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 25. April 2001 - BVerwG 4 B 31.01 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 47 = NVwZ-RR 2001, 798 und vom 11. Mai 1999 - BVerwG 9 B 1076.98 - <juris> m.w.N.). Dass derartige Umstände hier vorliegen, zeigt die Beschwerde indes nicht auf. Es fehlt schon an der Darlegung, welchen neuen, bisher noch nicht erörterten Gesichtspunkt das Gericht zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht haben soll. Die beiden genannten Erkenntnisquellen waren ausweislich des Sitzungsprotokolls Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Warum der anwaltlich vertretene Kläger aufgrund des bisherigen Verfahrensverlaufs nicht damit zu rechnen brauchte, dass das Berufungsgericht diese Quellen in Zusammenhang mit der übrigen Auskunftslage in der Weise würdigt, wie es in dem angefochtenen Urteil geschehen ist, lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Insbesondere musste dem anwaltlich vertretenen Kläger auch ohne einen Hinweis des Gerichts bewusst sein, dass aus der erörterten Auskunft des Auswärtigen Amtes gegen eine Rückkehrverfolgung sprechende Schlüsse gezogen werden könnten. Er hätte deshalb von sich aus etwaige Bedenken gegen die Auskunft vortragen und den jetzt in der Beschwerde formulierten Beweisantrag stellen können.
Im Übrigen lässt sich aus dem Beschwerdevorbringen auch kein sonstiger Verfahrensmangel herleiten. Die Beschwerde wendet sich in Wahrheit gegen die dem Tatrichter vorbehaltene Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Etwaige Mängel der Beweiswürdigung und der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) sind aber grundsätzlich dem materiellen Recht und nicht dem Verfahrensrecht zuzurechnen (stRspr, vgl. Beschluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 = DVBl 1996, 108). Etwas anderes mag allenfalls bei einer von Willkür geprägten Sachverhalts- und Beweiswürdigung, etwa bei offensichtlich widersprüchlichen oder aktenwidrigen Feststellungen sowie Verstößen gegen die Natur- und Denkgesetze, gelten. Dass die beanstandete Beweiswürdigung des Berufungsgerichts derart fehlerhaft ist, zeigt die Beschwerde indes nicht auf. Soweit sie meint, das Fehlen von Referenzfällen in der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 8. April 2003 einerseits und in der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 21. Juni 2003 andererseits hätte jeweils gleich behandelt werden müssen, verkennt sie, dass es insoweit keine "Beweisregel" gibt, sondern bei der Verfolgungsprognose eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen ist (stRspr, vgl. Urteil vom 5. November 1991 - BVerwG 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162, 169). Es kommt danach auf eine wertende Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls an, im Rahmen derer auch das Vorhandensein oder Fehlen von Referenzfällen als Indiz herangezogen werden kann (vgl. Beschluss vom 3. Januar 1996 - BVerwG 9 B 650.95 - <juris>). Die Bewertung dieses Indizes kann dabei in unterschiedlichen Zusammenhängen - je nach Würdigung der Gesamtsituation aufgrund der Auskunftslage - unterschiedlich ausfallen. Eine schematische Gleichbehandlung, wie sie die Beschwerde im vorliegenden Zusammenhang für die Beurteilung von bei abstrahierender Betrachtung ähnlichen oder übereinstimmenden Merkmalen oder Umständen erwartet und fordert, ist bei der Beweiswürdigung allgemein - und so auch hier - nicht angebracht.
2. Die Revision kann auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden. Die Beschwerde hält insofern die Frage für klärungsbedürftig,
ob es im freien Ermessen des Gerichts liegt, welche Bewertungsmaßstäbe es an die in das Verfahren eingeführten Quellen im Einzelnen anlegt, und ob nicht die Qualität der Quellen einem einheitlichen Bewertungsmaßstab zu unterliegen hat oder ob nicht zumindest klargelegt werden muss, warum jeweils unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe angelegt wurden.
Diese Frage, die sich vorliegend allenfalls in Bezug auf das Erfordernis von Referenzfällen stellen würde, ist, wie sich bereits aus den vorstehenden Ausführungen zur Verfahrensrüge ergibt, bereits dahingehend geklärt, dass es insoweit keinen schematischen "einheitlichen Bewertungsmaßstab" gibt, sondern eine qualifizierende Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen ist. Inwiefern der Fall des Klägers Anlass zu weitergehender Klärung bieten sollte, legt die Beschwerde nicht dar.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG a.F. (= § 83 b AsylVfG n.F.) nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG a.F. (vgl. § 60 RVG).