Verfahrensinformation

Die Kläger, afghanische Staatsangehörige, wenden sich gegen einen Bescheid der Beklagten, durch den ihre Asylanträge als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Ungarn angeordnet worden ist.


Sie reisten auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragten im Juli 2014 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Eurodac-Treffer bezüglich Griechenland und Ungarn erhalten hatte, richtete es im August 2014 ein Übernahmeersuchen an Ungarn. Die ungarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 29. August 2014 und 1. September 2014 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge. Mit Bescheid vom 11. September 2014 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylanträge unzulässig sind und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Ungarn an.


Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren sei aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls bereits nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Das in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen verdichte sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt in die Prüfung des Asylantrags, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation sei anzunehmen, wenn im Falle der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre. Ein solcher Fall liege hier aufgrund der schweren und fortwährenden psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2 vor. Die Pflicht zum Selbsteintritt Deutschlands in die Prüfung der Asylanträge ergebe sich aus dem Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Art. 3 Abs. 1 GR-Charta. Nach den vorliegenden ärztlichen Attesten lägen bei der Klägerin zu 2 eine schwere depressive Episode und eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Im Falle einer Überstellung sei damit zu rechnen, dass das labile seelische Gleichgewicht der Klägerin zu 2 in riskanter Weise aus den Fugen gerate. Für die Familienangehörigen der Klägerin zu 2 ergebe sich der Selbsteintritt aus den unionsrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Ehe und Familie.


Verfahrensinformation

Die Kläger, afghanische Staatsangehörige, wenden sich gegen einen Bescheid der Beklagten, durch den ihre Asylanträge als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Ungarn angeordnet worden ist.


Sie reisten auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragten im Juli 2014 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Eurodac-Treffer bezüglich Griechenland und Ungarn erhalten hatte, richtete es im August 2014 ein Übernahmeersuchen an Ungarn. Die ungarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 29. August 2014 und 1. September 2014 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge. Mit Bescheid vom 11. September 2014 stellte das Bundesamt fest, dass die Asylanträge unzulässig sind und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Ungarn an.


Das Verwaltungsgericht hat der hiergegen gerichteten Klage stattgegeben. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren sei aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls bereits nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Das in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen verdichte sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt in die Prüfung des Asylantrags, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation sei anzunehmen, wenn im Falle der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre. Ein solcher Fall liege hier aufgrund der schweren und fortwährenden psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2 vor. Die Pflicht zum Selbsteintritt Deutschlands in die Prüfung der Asylanträge ergebe sich aus dem Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Art. 3 Abs. 1 GR-Charta. Nach den vorliegenden ärztlichen Attesten lägen bei der Klägerin zu 2 eine schwere depressive Episode und eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Im Falle einer Überstellung sei damit zu rechnen, dass das labile seelische Gleichgewicht der Klägerin zu 2 in riskanter Weise aus den Fugen gerate. Für die Familienangehörigen der Klägerin zu 2 ergebe sich der Selbsteintritt aus den unionsrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Ehe und Familie.


Beschluss vom 03.04.2017 -
BVerwG 1 C 9.16ECLI:DE:BVerwG:2017:030417B1C9.16.0

Dublin-Verfahren und Durchentscheiden bei fehlendem Ausspruch zu Abschiebungsverboten

Leitsätze:

1. Die nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu treffende Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, bezieht sich in Fällen unzulässiger Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG nicht auf den Herkunftsstaat des Asylbewerbers, sondern auf den Zielstaat der Überstellung bzw. Abschiebung.

2. Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG ist nicht allein deswegen rechtswidrig, weil in dem Bescheid die gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG vorgesehene Feststellung zu nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG fehlt.

  • Rechtsquellen
    Dublin III-VO Art. 17
    VwGO § 86 Abs. 1, § 113 Abs. 1, § 161 Abs. 2 Satz 1
    AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 31 Abs. 3 Satz 1
    AufenthG § 60 Abs. 5 und 7

  • VG Augsburg - 21.11.2014 - AZ: VG Au 6 K 14.50237
    VGH München - 03.12.2015 - AZ: VGH 13a B 15.50124

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 03.04.2017 - 1 C 9.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2017:030417B1C9.16.0]

Beschluss

BVerwG 1 C 9.16

  • VG Augsburg - 21.11.2014 - AZ: VG Au 6 K 14.50237
  • VGH München - 03.12.2015 - AZ: VGH 13a B 15.50124

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. April 2017
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Rudolph
und Dr. Wittkopp
beschlossen:

  1. Das Revisionsverfahren wird eingestellt.
  2. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. November 2014 und das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 3. Dezember 2015 sind wirkungslos.
  3. Die Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Gründe

I

1 Die Kläger, afghanische Staatsangehörige, reisten im Juni 2014 auf dem Landweg nach Deutschland ein und beantragten ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Aufgrund von Eurodac-Treffern stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) fest, dass die Kläger zuvor bereits in Griechenland und Ungarn Asyl beantragt hatten, und richtete ein Übernahmeersuchen an Ungarn. Die ungarischen Behörden erklärten sich mit der Wiederaufnahme der Kläger einverstanden. Mit Bescheid vom 11. September 2014 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Ungarn an (Ziffer 2).

2 Hiergegen erhoben die Kläger Klage und beantragten vorläufigen Rechtsschutz. Zur Begründung machten sie geltend, dass das in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumte Ermessen dahingehend auf Null reduziert sei, dass die Beklagte ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben und den Asylantrag in der Sache zu prüfen habe. Sie legten fachärztliche psychiatrische Gutachten vor, wonach bei der Klägerin zu 2 eine depressive Störung mit Suizidalität und eine posttraumatische Belastungsstörung bestehe.

3 Das Verwaltungsgericht gab der Klage statt. Der Verwaltungsgerichtshof wies die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 3. Dezember 2015 zurück. Hiergegen richtete sich die Revision der Beklagten.

4 Nach einem gerichtlichen Hinweis in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht hat die Beklagte den Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO erklärt und den angegriffenen Bescheid auch zu Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides aufgehoben.

5 Daraufhin haben die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt.

II

6 Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO einzustellen. Gemäß § 173 VwGO in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung des § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO sind die Entscheidungen der Vorinstanzen wirkungslos.

7 Über die Kosten des Verfahrens in allen Instanzen ist unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden (§ 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Billigem Ermessen entspricht es in der Regel, demjenigen Verfahrensbeteiligten die Verfahrenskosten aufzuerlegen, der das erledigende Ereignis aus eigenem Willensentschluss herbeigeführt hat oder der ohne das erledigende Ereignis bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage voraussichtlich unterlegen wäre (BVerwG, Urteil vom 6. April 1989 - 1 C 70.86 - BVerwGE 81, 356 <362 f.>).

8 Danach sind hier der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.

9 Der Rechtmäßigkeit des auf § 27a AsylG a.F. (jetzt: § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG) gestützten Bescheids der Beklagten steht allerdings nicht bereits die fehlende Feststellung dazu, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, entgegen. Nach dem durch das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) geänderten § 31 Abs. 3 AsylG ist das Bundesamt nunmehr auch bei allen unzulässigen Asylanträgen zu einer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG verpflichtet. Hierbei ist davon auszugehen, dass sich die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG nicht auf den Herkunftsstaat des Asylbewerbers, sondern auf den Zielstaat (Zielland der Überstellung) bezieht. Denn eine Feststellung von Abschiebungsverboten in Bezug auf das Herkunftsland ergäbe im Fall der beabsichtigten Überstellung in einen EU-Mitgliedstaat keinen Sinn. Die Entscheidung nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG über nationale Abschiebungsverbote kann in diesen Fällen nicht das Herkunftsland, sondern nur den sonstigen Drittstaat betreffen, in den die Rückführung allein in Betracht kommt (vgl. in diesem Sinne auch: VGH München, Urteil vom 13. Dezember 2016 - 20 B 15.30049 - juris Rn. 41; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Februar 2017, § 31 AsylG Rn. 44a; Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 31 Rn. 13).

10 Allein die fehlende Feststellung nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu den nationalen Abschiebungsverboten führt nicht zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids. Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO unterliegt ein Verwaltungsakt der gerichtlichen Aufhebung, soweit er rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113 Abs. 1 VwGO ist das Gericht verpflichtet, die Sache spruchreif zu machen, d.h. zu überprüfen, ob und inwieweit der angefochtene Verwaltungsakt den Kläger in seinen Rechten verletzt und deshalb aufzuheben ist (Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 113 Rn. 20). Hierin kommt die Verpflichtung der Gerichte zum Ausdruck, zu prüfen, ob ein angefochtener Verwaltungsakt mit dem objektiven Recht im Einklang steht und den Kläger in seinen (subjektiven) Rechten verletzt. Bei dieser Prüfung haben die Verwaltungsgerichte alle einschlägigen Rechtsnormen und - nach Maßgabe der Sachaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO - alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, gleichgültig, ob die Normen und Tatsachen von der erlassenden Behörde zur Begründung des Verwaltungsaktes angeführt worden sind oder nicht (BVerwG, Urteil vom 16. November 2015 - 1 C 4.15 - BVerwGE 153, 234 Rn. 28). Ausgehend davon führt es nicht bereits zur Rechtswidrigkeit des Bescheids, wenn ein (ausdrücklicher) Ausspruch zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG fehlt oder eine Prüfung der nationalen Abschiebungsverbote nicht erfolgt ist. Vielmehr hat das Tatsachengericht diese Prüfung - gegebenenfalls auch erstmals - selbst vorzunehmen.

11 Ob der Bescheid aus anderen Gründen rechtswidrig war, ist für die nach Erledigung der Hauptsache nur noch zu treffende Kostenentscheidung hier nicht mehr von Bedeutung. Es entsprach schon deshalb billigem Ermessen, der Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, weil sie den angefochtenen Bescheid aufgehoben und damit die Kläger klaglos gestellt hat.

12 Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.